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Veröffentlicht
am 18.05.2023
LabernKommentar

„Ein bisschen wie Superman“

Veröffentlicht
am 18.05.2023
Unser Autor leidet seit seiner Jugend an einer bipolaren Störung, „einer Krankheit, die in kürzester Zeit ein Leben zerstören kann“, so sein Kommentar. Er hat gelernt, mit der Krankheit zu leben. BARFUSS bringt den ersten Teil seiner Erfahrungen und Gedanken.
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Ich hatte nicht die beste Kindheit. Meine Eltern waren Anfang 20, also selbst noch „Kinder“, als sie mir das Leben schenkten. Als ich vier Jahre alt war, trennten sie sich. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich deshalb traurig war. Woran ich mich erinnere, ist die Tatsache, dass mein Vater nun nicht mehr bei mir war. Ich fühlte mich einsam. Ein Kind sollte sich nie einsam fühlen, denn Einsamkeit macht traurig. Eine Traurigkeit, die bleibt, wie ein Muttermal, nur unschöner. Jeden Samstag verbrachte ich mit meinem Vater. Es war der schönste Tag der Woche, denn wir unternahmen viel: Wir spielten Fußball oder Tischtennis und gingen Wandern. Er schenkte mir unglaublich viel Aufmerksamkeit und Liebe. Ich fühlte mich wie ein kleiner Prinz. Das war mein Tag. Ich war das Zentrum des Geschehens. Mein Vater symbolisierte als „guter Riese“ eine Zufluchtsstätte, einen Ort, der Schutz bot.
Unsere Zweisamkeit wurde aber leider nach ein paar Jahren von seinen neuen Partnerschaften, meinen Konkurrentinnen, gestört. Zumindest empfand ich das so. War mein Vater in einer Beziehung, hatte er automatisch weniger Zeit für mich. Deshalb waren seine Freundinnen für mich wie Feindinnen. Als ich neun Jahre alt war, heiratete er das zweite Mal. Das war der Anfang vom Ende unserer Vater-Sohn-Beziehung.

Die Frage, die ich mir während meiner gesamten Kindheit stellte, war immer dieselbe: „Was habe ich bloß verbrochen, dass mir meine Eltern keine Aufmerksamkeit schenken?“ Es war ein Trauma, dass mich geprägt hat, ein kontinuierlicher konstanter Schmerz.

Auch die Beziehung zu meiner Mutter würde ich als schwierig bezeichnen. Auch sie hatte wenig Zeit für mich und auch sie hatte neue Partner, die ich als meine Konkurrenten empfand. Als ich sieben war, lernte sie einen Mann kennen, mit dem sie 15 Jahre zusammenblieb. Einen Mann, der mein Leben wie kein anderer geprägt hat. Nennen wir ihn Benedikt. Die ganze Welt drehte sich um Benedikt, er war ein Egozentriker sondergleichen. Für Mitmenschen blieb nicht viel Platz übrig, schon gar nicht für ein Kind wie mich. Heute weiß ich: Solche Menschen sollten keine Kinder erziehen. Dank Benedikt weinte ich unzählige Male und kam mir öfters wie ein Stück Dreck vor. Trotzallem hatte meine Mutter nur noch Augen für ihn.

Um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen, musste ich immer der Beste sein, vor allem in der Schule und beim Sport. Kinder verwechseln häufig Liebe mit Aufmerksamkeit, so auch ich. Wenn ich meinen Erwartungen nicht entsprochen habe, dann bin ich in Tränen ausgebrochen. Die Frage, die ich mir während meiner gesamten Kindheit stellte, war immer dieselbe: „Was habe ich bloß verbrochen, dass mir meine Eltern keine Aufmerksamkeit schenken?“ Es war ein Trauma, dass mich geprägt hat, ein kontinuierlicher konstanter Schmerz. Das Schlimmste daran war, dass ich es mir nicht erklären konnte.

Als Jugendlicher gewöhnte ich mich daran und die fehlende Aufmerksamkeit meiner Eltern begann mir gleichgültig zu werden. Früh schon distanzierte ich mich völlig von meinem Elternhaus. Die ganzen Freiheiten, die ich genießen durfte, forcierten diese Entwicklung zusätzlich. In dieser Zeit manifestierten sich die ersten Anzeichen meiner bipolaren Störung: Mit 14 war ich das erste Mal depressiv. Es war zu Beginn des Schuljahres und der Herbst kündigte das Ende vom Sommer an. Seit damals verfolgen mich immer wieder Depressionen im Herbst. Ich hatte furchtbare Angst vor der Zukunft und vor dem Leben. Oftmals war ich neidisch auf alte Menschen, die es in meinen Augen geschafft haben, das Leben zu meistern. Ich selbst war überzeugt, dies nie zu schaffen.

Wie soll ich dieses Leben bewerkstelligen? Was soll ich mit meinem Leben anstellen? Fragen, auf die ich bis heute keine Antwort habe…

Ich hatte bei keinerlei Tätigkeit Freude, alles war schwerfällig und mühsam. Am liebsten habe ich geschlafen, sicherlich 13-14 Stunden am Tag. Mit 16 wurde die Depression stärker und länger. Sie begann schon zu Beginn des Sommers, weshalb meine Mutter einen Psychiater kontaktierte. Dieser meinte, dass ich gesund wäre. Trotzdem musste ich die Schule wechseln und kam ins Heim. Das Heim war meine Rettung. Als Einzelkind ging ich dort unter all den anderen Menschen auf wie eine Blume. Ich hatte das erste Mal das Gefühl nicht einsam zu sein.

Rückblickend frage ich mich, ob nicht dieser schnelle „Turn“ zwischen Depression und rapide Verbesserung meine bipolare Störung begünstigte. Von einem Tag auf den anderen war plötzlich alles gut. Nicht unbedingt sehr logisch. Der Schulwechsel bedeutete noch mehr Freiheit, da das Heim sehr lockere Regeln hatte. Es dauerte nicht lange, da begann ich fast täglich zu kiffen. Ich liebte dieses Gefühl, ein bisschen fern der Realität und vor allem so unbekümmert und gleichgültig drauf zu sein. Vor allem aber diente es zu meiner Beruhigung, denn ich hatte öfters leicht manische Züge. Wahrscheinlich habe ich es als Nervosität abgetan, doch es war mehr und ich spürte das innerlich. Jedenfalls war Cannabis mein Allheilmittel und im Maturajahr begann mein exzessiver Konsum. In dieser Zeit fand ich auch meine erste große Liebe. Mein Leben drehte sich nur mehr um zwei Sachen: das Kiffen und meine neue Freundin. Dies führte dazu, dass ich häufig die Schule schwänzte. Ich war nicht mehr motiviert und habe als eigentlich sehr guter Schüler die Matura grade mal so noch geschafft.

Es ging soweit, dass ich dachte, meine Wahrheit ist die Wahrheit der Menschheit, auf die quasi jeder ein Recht hat und mitgeteilt werden muss. Eine Offenbarung oder gar mein Dienst an die Menschheit.

Nach der Matura begann ich ein Studium. In meinen ersten Unijahren war das viele Kiffen immer noch ganz oben auf meiner Tagesordnung. Ich war nicht der beste Student, doch es ging kontinuierlich weiter. Nach drei Jahren bekam ich mit 21 Jahren wieder Depressionen. Die Krise wurde existenzieller. Wie soll ich dieses Leben bewerkstelligen? Was soll ich mit meinem Leben anstellen? Fragen, auf die ich bis heute keine Antwort habe…
Das Kiffen verschlimmerte die Situation dramatisch, denn diese existenziellen Sorgen verschärften sich gewaltig und ein Gedankenkarussell setzte unter der berauschenden Wirkung ein. Immer dieselben Gedanken und keine Lösung in Sicht. Der Prüfungsstress kam hinzu, denn ich war vor der größten Prüfung des Studiums. Überraschenderweise bestand ich sie. Das ist mir bis heute unerklärlich. Die Depression schlug innerhalb weniger Tage in eine Manie um und auf einmal gab es keine Sorgen mehr, sondern nur mehr Möglichkeiten.

Das Selbstvertrauen war jenes eines Giganten und ein erfolgreiches Leben für mich selbstverständlich. Alle Tätigkeiten sorgten für mächtig Spaß und eine Euphorie war mein ständiger Begleiter. Schlafen war langweilig und diesen Luxus gönnte ich mir nur wenige Stunden. Es gab ja so viel zu tun und zu erleben. Alle Fremden waren potentielle Gesprächspartner:innen, die mit Sicherheit daran interessiert waren, meine Wahrheit zu erfahren. Denn die habe ich natürlich besessen. Es ging soweit, dass ich dachte, meine Wahrheit ist die Wahrheit der Menschheit, auf die quasi jeder ein Recht hat und mitgeteilt werden muss. Eine Offenbarung oder gar mein Dienst an die Menschheit. Dass die armen Opfer schnell das Weite suchten, war nur Bestätigung für meine Genialität. Die Wahrheit ist halt schwer zu ertragen.

Die einfachen Leute wurden zu Zuhältern, dann eine Minute später zu Mafiosi, die die Prostitution kontrollierten und wer weiß was alles noch. Dies war jetzt Realität und die Wahrheit. Nun konnte ich für Aufklärung sorgen. Ich musste.

Plötzlich war das Kiffen wieder schön und die Droge war wie Balsam für meine Seele. Sie ordnete meine Gedanken. Im Winter ging ich täglich Skifahren, natürlich ohne Helm und immer Vollgas. Dass ich nicht der beste Skifahrer bin, spielte natürlich keine Rolle. Ich hatte alles unter Kontrolle. Bullshit. Nichts konnte ich kontrollieren, rein gar nichts. Dass es einen unter dieser Euphorie und Manie am schlechtesten geht, ist unmöglich einzusehen, wenigstens zu Beginn der Krankheit.
Die Manie wurde immer stärker und meine Freundin begann sich von mir zu distanzieren. Mir war das egal, denn Frauen gab es eh wie Sand am Meer und keine kann meinem Charme widerstehen. Das dachte ich wirklich. Einmal konnte ich nachts nicht schlafen und aus Langweile suchte ich einen Imbiss auf. So gegen 3 Uhr aß ich einen Hamburger und drei Meter neben mir saßen ein paar komische Gestalten. Diese sprachen über die Prostitution im Viertel und machten sich über einen Kellner lustig. „Du musst arbeiten und wir können ficken“, sagte einer. Sie waren bemitleidenswert aber keineswegs gefährlich oder gar kriminell. Doch mit einem Schlag fingen die Neuronen an, in meinem Kopf verrückt zu spielen.

Die einfachen Leute wurden zu Zuhältern, dann eine Minute später zu Mafiosi, die die Prostitution kontrollierten und wer weiß was alles noch. Dies war jetzt Realität und die Wahrheit. Wie das bloß für so lange Zeit geheim bleiben konnte, fragte ich mich. Nun konnte ich für Aufklärung sorgen. Ich musste. Das war meine Aufgabe während meiner gesamten Manie. Jedem erzählte ich stolz meine Erkenntnisse und machte die ganzen lokalen Medien darauf aufmerksam. Ich rechnete mit einer schnellen Antwort, sodass ich die Südtiroler:innen aufklären konnte, um das Problem der Prostitution in den Griff zu bekommen, aber nichts. Einmal wurde ich zu dieser Zeit im Zug, ich muss wirklich schrecklich ausgeschaut haben, von allen Leute angestarrt. In diesem Moment dachte ich, dass mich die Mafia verfolgen und observieren würde. Daraufhin geriet ich in Panik und hatte schwere Atemnot. Verzweifelt ging ich zum Schaffner und erzählte ihm meine Bedenken. Er rief die Rettung und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Vermutlich wurde eine Überdosis von Drogen vermutet.

In der Notaufnahme offenbarte ich meine paranoiden Gedanken und der Arzt schaltete sofort den psychiatrischen Dienst ein. Der Kontakt mit diesem Psychiater war ein Alptraum. Er behandelte mich sofort wie einen Alien. „Sie sind schwer krank und haben eine Manie. Das ist eine Seite einer bipolaren Erkrankung. Sie müssen stationär aufgenommen werden“, versuchte er mich aufzuklären. Davon wollte ich natürlich nichts wissen, aber sogar meine herbeigerufenen Eltern wollten mich nicht nach Hause mitnehmen. „Wenn sie nicht einwilligen, dann rufen wir die Polizei und machen einen TSO (trattamento sanitario obbligatorio).“ Ich wusste zwar nicht, was das ist, aber es klang gar nicht gut. Schlussendlich musste ich dem Druck nachgeben und kam auf die geschlossene Abteilung. Ich bekam ein Willkommensgetränk und zwei Pillen, danach ist meine Erinnerung nur mehr Nebel.

Es ist ein bisschen wie Superman, dem man plötzlich erklären will, bitte nicht durch die Gegend zu fliegen, sondern den Gehweg zu benützen.

Das Einzige, an das ich mich erinnern kann, war die Verzweiflung eingesperrt zu sein – ohne zu wissen warum – und der Wille wieder frei zu kommen. Immer wieder bat ich darum nach Hause zu dürfen. Der Eindruck, den ich auf meine Besucher:innen machte, war desaströs. Freund:innen erzählten mir später, dass sie geschockt waren. Speichel rannte mir die Backen runter und ich konnte mich nicht richtig artikulieren. Meine Mutter und meine Freundin schenkten mir viel Liebe, zeigten ihren Schockzustand nicht und versuchten mich mit ihrem Optimismus zu motivieren. Nach zwei Wochen wurde ich auf Beharren meiner Mutter wieder entlassen.

Ich war aber immer noch manisch. Dieses Gefühl etwas Besonderes zu sein, den anderen überlegen, nicht ein Schaf in der Herde sondern der Hirte zu sein, macht unglaublich süchtig. Es ist eine Euphorie, die nur schwer mit Worten zu beschreiben ist. Man muss sie erfahren, sonst kann man sich nichts darunter vorstellen. Es ist ein bisschen wie Superman, dem man plötzlich erklären will, bitte nicht durch die Gegend zu fliegen, sondern den Gehweg zu benützen. Diese Manie war bei weitem die Schlimmste, die ich in meiner Krankheitsgeschichte hatte. Ich schäme mich sehr, wenn ich an diese Zeit denke. Ich bin mir bewusst, dass ich mir diese Krankheit nicht ausgesucht habe und dass ich nichts dafür kann – trotzdem bleibt das Schamgefühl.

Die Scham ist der mächtigste Gegner im Genesungsprozess, denn obwohl sie von außen beeinflusst ist, wird sie im Inneren ausgetragen.

Unterstützt wird dieses von der Gesellschaft, denn Manisch-Depressive gehen gar nicht. Sie verlassen das „Rational-terrestrische“ und befinden sich eher in den Sternen des Orion. Dadurch, dass das krankhafte Verhalten nicht rational erklärt werden kann, wird es an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dies fällt beinahe jeder Person mit einer psychischen Krankheit sofort auf. Der Fachbegriff hierfür lautet Stigmatisierung. Stigmatisierung ist quasi eine zweite Krankheit, mit Konsequenzen, die Nichtbetroffene nicht einmal erahnen können. Die Scham ist der mächtigste Gegner im Genesungsprozess, denn obwohl sie von außen beeinflusst ist, wird sie im Inneren ausgetragen.
Eine innere Gleichgültigkeit soll aus diesem Grund angestrebt werden gemäß dem Motto: „Es ist mir scheißegal wie andere über mich urteilen. Ich kann nichts für diese Krankheit und ich habe sie nicht ausgesucht. Ich werde zwar an den Rand gedrängt, doch es ist nicht meine Schuld und deshalb schäme ich mich für rein gar nichts. Diesen Gefallen mache ich euch nicht, im Gegenteil ich kämpfe für meinen Platz in der Gesellschaft.“
Dies sind natürlich leichte Worte. Doch das Ziel in die Gesellschaft integriert zu werden, mittendrin zu sein, ist prioritär. Am Rande lebt es sich einfach schlecht.   

Teil zwei dieses Erfahrungsberichts folgt Anfang nächster Woche #staytuned

* Unser Autor möchte anonym bleiben

Hol dir Hilfe, wenn du gerade eine schwierige Phase oder eine Krise durchlebst. „Es reicht das Gefühl, dass man Hilfe braucht”, sagte jüngst Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Cagol in einem Interview mit BARFUSS auf die Frage, wann man eine psychologische Anlaufstelle kontaktieren sollte. Adressen und Kontakte findest du auf der Website dubistnichtallein.it.

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