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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 04.10.2016
LebenReportage über Russland

Freund oder Feind?

Veröffentlicht
am 04.10.2016
Die Gräben zwischen Ost und West werden tiefer. Russland ist ein Rätsel, für Europa und selbst für junge Russen. Doch gerade jetzt ist Verständnis notwendig.
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Auf der Kuppel der St. Isaak’s Kathedrale in St. Petersburg

Es ist nur einige Jahrzehnte her, als Russland vom Schweizer Schriftsteller Max Frisch als die letzte „terra incognita“ auf dieser Erdkugel bezeichnet wurde. Seitdem hat sich viel geändert. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, das Land hat sich dem freien Markt geöffnet. Es gibt keinen Eisernen Vorhang mehr; wer das flächengrößte Land der Erde und seine Leute kennenlernen will, braucht nur ein Visum, um nach Osten aufzubrechen. Doch etwas ist übriggeblieben von diesem „Inkognitum“, von einem rätselhaften Restelement, das den Europäer zweifeln lässt: Ist der Russe ein Freund oder Feind? Während die Gräben zwischen West und Ost wieder tiefer werden, Stellvertreterkonflikte in Syrien und in der Ukraine ihre Neuauflage erleben, ist es wohl an der Zeit, sich ein Bild vor Ort zu machen. Denn in einem Punkt mag der Gazprom-Ingenieur, den ich in einem Nachtzug nach Moskau kennenlernte, wohl recht haben: „Das Gefährlichste sind nicht unsere Machthaber, sondern Journalisten, die über ein Land schreiben, ohne je dort gewesen zu sein.“

Wer als europäischer Tourist nach Russland kommt und an einem Flughafen in St. Petersburg oder Moskau aussteigt, der merkt zunächst keinen großen Unterschied zu europäischen Standards. Lediglich die McDonalds-Aufschrift über der nächsten Fast-Food-Bude steht nun in kyrillischen Lettern (Мак Доналдс) und es braucht ein paar Tage, bis man sich an die neue Schrift gewöhnt hat. Auch das Straßenbild unterscheidet sich nicht auf nennenswerte Weise. Autos vom Hause Lada – in Sowjetzeiten noch die meistverkaufte Automarke in Russland – gibt es in der Großstadt nur noch sehr wenige. Denn hier lebt Russlands Mittel- und Oberschicht. Und deren Vertreter fahren lieber Audi, VW oder BMW. Eins aber springt dem Ausländer gleich ins Auge und lässt keinen Zweifel daran, dass man im Lande Pasternaks, Lenins und Gagarins angekommen ist. An beinahe jedem wichtigen Gebäude der öffentlichen Verwaltung prangen noch Hammer und Sichel mit einem monumentalen Charakter, der typisch für die Bauten aus Stalin-Zeiten ist.

„Das Gefährlichste sind nicht unsere Machthaber, sondern Journalisten, die über ein Land schreiben, ohne je dort gewesen zu sein.“ 

Vladimir, Ingenieur bei Gazprom

Es ist ein Laster des Reisenden, sich sofort ein einheitliches Bild von den Menschen im fremden Land machen zu wollen. Zum Klischee ist es dann nicht mehr weit. Aber selbst, wenn man jegliche Verallgemeinerung vermeiden will, fällt dem Reisenden sehr bald etwas auf: Hier in Russland, vor allem in St. Petersburg, weht auf den Straßen ein ganz anderer Wind als in Mitteleuropa. Ein freierer Wind. Nordische Verschlossenheit und Brummigkeit gibt es zwar, aber wenn es nicht gerade eiskalter Winter ist, ziehen sie sich zurück in die modrige Kühle der Untergrundbahn. „Wie kamst du dazu, unser Land besuchen zu wollen?“, das ist eine Frage, die ich häufig zu hören bekomme. Viele Russen scheinen es als persönliches Kompliment aufzufassen, wenn jemand von fernab hierherkommt, um sich ihr Land anzusehen. Gleichzeitig schwingt mit dieser Frage aber auch ein gewisses Misstrauen mit, das sich nicht selten auf sonderbare Weise mit aufrichtiger Freundlichkeit vermischt.

Was den Besucher aus dem Westen aber wirklich verwundern mag, sind Szenen wie diese: Zwei Frauen, die am Ufer der Moskwa (der Fluss, der durch Moskau fließt) einander umarmen und küssen. Männer, die ganz unverhohlen mit Stöckelschuhen auf dem Newskij Prospekt promenieren. Die vielen Straßenmusikanten, die hier, auf der Hauptstraße St. Petersburgs, die Vorbeigehenden um sich scharen und einige von ihnen zu spontanen Tänzen bewegen. Und wer meint, er habe schon alles gesehen, weil er in der Bar jemandem gegenübersaß, der einen kleinen Löwen oder einen Uhu als Haustier auf dem Arm hielt, der muss erst das russische Nachtleben kennenlernen… Von einer repressiven Autokratie merkt man im alltäglichen Leben wenig. Auch der Souvenir-Verkäufer darf an seinem Stand problemlos T-Shirts mit Putin-Karikaturen verkaufen.

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Doch der harmlose Schein trügt. Wenige Meter vom Souvenir-Stand entfernt, auf der großen Moskvoretsky-Brücke, werfen Menschen Blumen in die Moskwa. Es ist eine Gedenkstätte für Boris Nemtsow, Vize-Premier unter Jelzin und bis zu seinem Tod ein glühender Putin-Gegner. Am Abend des 27. Februar 2015 setzten vier Projektile, die aus einem vorbeifahrenden Auto geschossen wurden, seiner politischen Tätigkeit ein Ende. Wer hinter dem Mord steht, ist bis heute ungeklärt. Fest steht nur: In Russland Einfluss zu haben, ist erlaubt. Gegen Putin zu sein, ist auch erlaubt. Aber Einfluss zu haben und gegen Putin zu sein, das ist gefährlich.

Das „wahre“ Russland

Aleksandra und Ksenia, zwei Studentinnen aus Moskau, sind überzeugt, dass der Schein hier überall trügt. „St. Petersburg und Moskau sind nicht das wahre Russland“, sagen sie. Das meiste hier sei lediglich von Europa kopiert. Aber das ist ihnen auch lieber, denn vom „wahren Russland“ halten beide nicht sehr viel.

Kennengelernt haben sich Aleksandra und Ksenia nicht in Russland, sondern in Amsterdam. Als sich ihr Erasmussemester in den Niederlanden dem Ende zuneigte und die Rückreise nach Moskau näher rückte, veränderte sich etwas in ihnen. Gedankenverlorene Blicke und eine gewisse Nervosität verrieten, dass sie etwas bedrückte. Dann erzählte Aleksandra einmal von einem Alptraum, der sie beschäftigte: Der bestand darin, dass sie wieder in Russland sei.

Ihre nicht-russischen Freunde blickten erstaunt: Klar, die Demokratie ist nicht so lupenrein, wie man sie gern hätte, und der Winter in Russland ist auch richtig hart, aber auch in den Niederlanden ist die Sonne nicht gerade oft zu sehen. Und nachdem ich St. Petersburg und Moskau jetzt persönlich kennengelernt habe – die Offenheit auf den Straßen, die Lebendigkeit der Menschen, die unzähligen Veranstaltungen – erstaunt mich Aleksandras und Ksenias Einstellung noch mehr. 

Vor allem möchte ich aber wissen: Wie sieht es aus, dieses „wahre Russland“, das manchen jungen Menschen einen solchen Horror bedeutet? Je nachdem, wen man fragt, bekommt man eine andere Antwort zu hören. Für Ksenia ist das wahre Russland die Vielzahl an kleinen Städten und Dörfer in den unendlichen Weiten des Ostens. Für die Menschen hier existiert nur ihr eigenes Land, eine Welt außerhalb davon kennen sie nicht. Ihr Leben ist von meistens von bitterer Armut geprägt. 

Um das wahre Russland kennenzulernen, muss man aufs Land, wo sich die Touristen aus dem Westen in der Regel nicht hintrauen. 

Die Studentin Ksenia über das „wahre“ Russland und über das Klischee der trinkenden Russen.

Die Armut in Russland hat Gründe. Der zügellose Kapitalismus unter Putins Vorgänger Boris Jelzin verhalf einigen Leuten zu unermesslichem Reichtum. Doch das waren wenige. Der große Rest der Bevölkerung verarmte und war ohne die Sozialsysteme des Kommunismus ganz sich selbst überlassen. Als im Jahr 2000 Vladimir Putin an die Macht kam und sich mit einigen Vorstellungen von Stärke und Robin-Hood-Gesinnung inszenierte, hielten ihn viele für die letzte Chance auf Rettung. Einiges hat sich seitdem verbessert, doch wirklich in Erfüllung sind die Hoffnungen von damals nicht gegangen. Von den größeren Staaten ist Russland weltweit derjenige mit der ausgeprägtesten Ungleichheit. 62 Prozent des Wohlstands liegt in den Händen von Millionären (in US-Dollar). Ein Viertel des Wohlstands ist sogar im Besitz von Milliardären. Das ist noch weitaus ungleicher als in den sonst vielgescholtenen USA, wo nur etwa ein Drittel des nationalen Wohlstands von Millionären gehalten wird.

Auch beim Sanitätssystem, dem wichtigsten Instrument eines Wohlfahrtsstaates, erinnert nichts mehr an die Ideale des Sozialismus. Russland hat von 55 untersuchten Staaten das ineffizienteste Gesundheitswesen – und liegt somit auch in diesem Bereich hinter den USA, die auf dem 50. Platz rangieren. Das ist Putins Russland. Die zaghaften Versuche einer Mittelschicht, sich zu behaupten, erleben kaum nennenswerte Erfolge. Doch trotz allem bleibt die Unterstützung für Putin hoch. Zustimmungswerte von über 70 Prozent sind bei Umfragen die Regel. Hauptgrund dafür ist die Angst, dass es ohne ihn noch schlimmer laufen würde. Außerdem spielt die konservative Einstellung eine entscheidende Rolle: In Russland leidet man noch unter der traumatischen Erfahrung, dass Umschwünge immer mit Verlusten und Einbußen einhergehen. Lieber versucht man den Status quo zu erhalten, auch wenn dieser nicht rosig aussieht. Die Ansprüche sind dementsprechend gering. Ksenias Mutter pflegt zu sagen: Ein guter Präsident zeichnet sich bereits durch die Eigenschaft aus, kein Trinker zu sein. Die Erinnerung an die Peinlichkeiten eines Jelzin oder eines Breschnew sitzen noch tief im kollektiven Gedächtnis. 

„Ein guter Präsident zeichnet sich bereits durch die Eigenschaft aus, kein Trinker zu sein.“

Die Studentin Aleksandra über Russlands Probleme und soziale Herausforderungen.

Aber es gibt auch Menschen, die dem wahren Russland eine ganz andere Seite abgewinnen können. Michele (Name geändert) zum Beispiel, ein 50-jähriger Italiener, der seit bereits 15 Jahren in St. Petersburg lebt und arbeitet. Wie für Ksenia und Aleksandra ist das wahre Russland auch für ihn das Leben auf dem Land. Doch dieses Leben sieht er mit den Augen des Wohlstands, und dadurch wird es zum Schlaraffenland. „Das wahre Russland – das sind die Landstriche, wo man mit wenig Geld ein König ist“, sagt Michele mit einem schelmischen Lächeln. „Man bekommt alles, die Frauen liegen einem zu Füßen, die Männer respektieren dich.“

Bisher liegt Micheles Leben gar nicht so weit von seinen Wunschvorstellungen entfernt. Nachdem er Sportler für Olympia trainiert hatte, verließ er im Zuge eines Doping-Skandals in seiner Disziplin enttäuscht das Geschäft. Seitdem leitet er den Vertrieb von italienischen Produkten in St. Petersburg. Und hat damit nicht wenig Erfolg. Seine Frau, eine blonde Russin, an die 30 Jahre jung, empfängt die Gäste seines Büros mit einem herzlichen Lächeln. Sie ist gleichzeitig auch Micheles Sekretärin. Dank ihres Unternehmens gehören die beiden zu den wenigen, die sich eine Wohnung im Zentrum St. Petersburgs leisten können. Seit einiger Zeit betreibt Michele auch mehrere Eisstände im Stadtzentrum, die im Sommer zu einer beträchtlichen Einnahmequelle werden. Einmal im Jahr zahlt er dafür ein Schmiergeld an die Stadtbeamten, dann läuft das Geschäft. Ein wirklicher Wettbewerb für Lizenzen ist überflüssig.

Das Märchen des bösen Russen

Der Unternehmer Michele kennt die Studentin Aleksandra nicht. Doch Aleksandra kennt Menschen wie ihn, die in Russland wohlhabend wurden. „Wer in Russland reich ist, der muss Regeln gebrochen haben“, sagt sie. „Keiner, der reich ist, hat etwas getan, das für die ganze Gesellschaft nützlich gewesen wäre.“ Deshalb ist ihr Europa lieber. Europäische Ideale wie Freiheit erscheinen ihr menschenfreundlicher zu sein als russische Ideale wie Ehre. Mehrmals im Jahr besucht sie ihren Freund in den Niederlanden und jedes Mal fällt es ihr schwer, wieder nach Moskau zurückzukehren. Ihren Traum von einem liberalen, multikulturellen und gerechten Russland hält sie für eine Utopie, jedenfalls unter Machthabern wie Putin. Wenn es um ihn geht, zitiert sie gerne einen Satz des französischen Philosophen Joseph de Maistre: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“

Wenn man aber Russland auch nur als vergleichsweise wohlhabender Europäer, der als flüchtiger Tourist da ist, kennenlernt, so erkennt man doch bald, dass Russland weit mehr als nur ein Schlaraffenland für Reiche ist. Man sieht die verschiedenen Gesichter dieses Volkes, die Geschichten, die es zu erzählen hat. Man erinnert sich an den Gazprom-Ingenieur, der im Nachtzug inbrünstig bat: „Geht nach Europa zurück und erzählt, dass wir Russen anders sind, als manche Medien uns darstellen – wir sind freundlich, wir wollen keinen Krieg, wir sind doch alle Brüder.“ Man erinnert sich auch an Aleksandra und Ksenia, die ihr Land kritisch betrachten und sich im Grunde nur danach sehnen, eine Chance zu bekommen – so wie die Jugendlichen aus den östlichen Teilen Russlands, die man im Hostel kennengelernt hat. Sie wohnen hier, weil sie nicht das Geld für eine eigene Wohnung haben.

Wenn man sich an all das erinnert, kommt als erstes die Frage auf: Wo ist der böse Russe, von dem immer geredet wird? Es scheint unvorstellbar, mit diesen Menschen Krieg zu führen. Und doch wird in den Medien die Kampfrhetorik lauter: Konfliktverschärfung, Neuauflage des Kalten Krieges, Feindespropaganda. Nur weil etwas unvorstellbar scheint, heißt das nicht, dass es nicht trotzdem geschehen kann. Seit 1914 wissen wir das und auch ein imposantes Denkmal in St. Petersburg, das an die dreijährige Belagerung durch Wehrmachtstruppen erinnert, mahnt daran. Der erste Schritt ist, einander zu verstehen. Auch wenn die Worte, die der britische Premierminister Winston Churchill 1939  gesprochen hat, nach wie vor aktuell sind: „Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium.“

„Das wahre Russland – das sind die Landstriche, wo man mit wenig Geld ein König ist und die Frauen einem zu Füßen liegen.” 

Michele, italienischer Unternehmer in St. Petersburg

Fotos:
Teseo La Marca

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