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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 26.06.2018
LeuteInterview mit Robert Menasse

„Südtirol ist das große Vorbild“

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse kämpft für ein großes, geeintes Europa. Er ist sich sicher: Sollte das Projekt scheitern, dann kracht es.
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Schriftsteller Robert Menasse

Der Deutsche Buchpreis ist im deutschsprachigen Raum die höchste Krönung für ein literarisches Werk. Robert Menasse gewann ihn im vergangenen Jahr mit seinem Roman „Die Hauptstadt“. Das kuriose Thema des Buches: die EU. Fünf Jahre lang ist Menasse nach Brüssel gezogen, um zu erfahren, wie die europäischen Institutionen wirklich funktionieren. Dort hat er die Kommission besucht, ist auf einflussreiche Lobbyisten und Politiker und auf unsichtbare EU-Beamte getroffen. „Die Arbeit dieser Beamten würden Sie nicht machen wollen“, erinnert sich Menasse. Meist leben sie in spartanischen Ein-Zimmer-Wohnungen und reiben sich täglich für ihren Beruf auf. Aber es sei ihr Idealismus, der sie antreibt. Ein Idealist ist Menasse selbst. Im BARFUSS-Interview spricht er über die Besonderheiten seines Romans und über die Vision eines großen, nachnationalen Europas.

Ich beginne mit einer sehr persönlichen Frage. Zu welcher Mannschaft halten Sie bei der aktuellen Fußball-WM?
Ich muss gestehen, so gerne ich auch Fußball schaue: Ich habe keine Lieblingsmannschaft. Ich mag zwar gute Spiele, aber ich habe ein Problem mit diesen Nationalmannschaften.

Das hatte ich befürchtet.
Aus einem einfachen und – wie ich finde – sehr logischen Grund. Mittlerweile ist es eindeutig so, dass Nationalmannschaften etwas Hybrides und Irreales geworden sind. Da spielen plötzlich lauter Fußballer in derselben Mannschaft, die in der Regel nicht einmal in derselben Liga spielen. Sie kommen nur zu Länderspielen zusammen und das Einzige, was sie dann verbindet, ist der gemeinsame Pass. Darum können sie nie wirklich eine Mannschaft werden, auch wenn sie immer heucheln, sie wären eine. Wenn man wirklich guten Fußball sehen will, wäre es eigentlich besser, Champions League zu schauen.

Eine sehr bunte Mannschaft sind auch die EU-Beamten, die in Ihrem Roman vorkommen. Die Geschichte wird kaleidoskopisch aus der Sicht der verschiedenen Hauptpersonen erzählt. Wäre eine Hauptperson nicht genug gewesen?
Als ich begonnen habe, an dem Roman zu arbeiten, war mir sehr schnell klar: Das muss eine Erzählung mit vielen verschiedenen Figuren sein. Gerade das ist das Charakteristikum der Stadt Brüssel und überhaupt der europäischen Institutionen. Da treffen Menschen aufeinander, die aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen kommen, andere Sprachen sprechen und die verschiedensten Mentalitäten haben. Es wäre deswegen schlicht nicht angemessen gewesen, den Roman aus der Sicht einer einzigen Person zu erzählen. Es war mir wichtig, jedem Typus eine gleichberechtigte Stimme zu geben. Es hat auch jede Figur eine Biographie, die auf jeweils eigene Weise in der europäischen Geschichte tief verwurzelt ist.

Gab es unter diesen Figuren jemanden, mit dem Sie sich am ehesten auch selbst identifizieren konnten?
Naja, mit den Figuren sind so Dinge passiert. Es gibt zum Beispiel eine Figur, die zunächst vor allem eine dramaturgische Bedeutung hatte. Und plötzlich merke ich, dass diese Figur, je präziser ich sie zu beschreiben versuche, mir immer ähnlicher wird. Dagegen habe ich mich zunächst gewehrt. Ich wollte kein Alter Ego. Ich wollte bestimmte Sichtweisen darstellen, aber jetzt merkte ich, dass alles, was die Figur sagt, meiner eigenen Gedankenwelt entspringt. Das hatte ich nicht recherchiert.

Nicht etwa der VWL-Professor Alois Erhart, der vorschlägt, Auschwitz zur Hauptstadt eines geeinten europäischen Staates zu machen?
Wobei der nicht wirklich mein Alter Ego ist, allein deshalb, weil er eine ganz andere Biographie hat als ich. Dennoch hat er sich mir auf eine Weise, die ich nicht geplant hatte, sehr anverwandelt.

Es ist aber tatsächlich so, dass Sie wie Erhart ein leidenschaftlicher Vertreter der Idee eines geeinten Europas sind, Sie haben auch zahlreiche Essays zu dem Thema geschrieben. Ein Roman ist jetzt aber doch etwas anderes als ein politischer Essay. Läuft man als Schriftsteller dabei nicht Gefahr, dass man nicht mehr erzählen, sondern belehren will?
Die Gefahr war mir bewusst und ich habe alles getan, um dieser Gefahr auszuweichen. Das müssen Sie jetzt beurteilen – aber ich glaube nicht, dass es ein Thesenroman geworden ist. Ich hatte eher das Gefühl, dass man, so wie ich die Arbeit in der EU-Kommission beschreibe, den Roman als eine schroffe Kritik an der EU lesen kann.

„Alles, was wir heute Krise nennen, ist auf einen einzigen Widerspruch zurückzuführen.“

Diese Kritik am Status Quo ergibt sich gleichzeitig doch aus einer zutiefst europäischen Überzeugung. Wie sähe das ideale Europa für Sie aus?
Der grundsätzliche Widerspruch der Europäischen Union besteht zwischen einer nachnationalen Entwicklung, die Europa bereits seit über 60 Jahren in kleinen Schritten näher aneinander rücken lässt, und dem zunehmenden Widerstand der Nationalstaaten, die sich für eine Renationalisierung einsetzen. Und man kann nicht beides haben. Dieser Widerspruch ist die gesamte Krise. Alles, was wir heute Krise nennen, ist auf diesen Widerspruch zurückzuführen, es ist immer nur das Symptom dieser grundsätzlichen Krise. Nennen Sie mir irgendeine Krise, die Europa gerade beschäftigt.

Im Moment ist es die Flüchtlingskrise, die Europa spaltet, und selbst die nationalen Regierungen sind zerstritten, man denke an den Regierungszwist zwischen Merkel und Seehofer…
Die EU-Kommission hat seit über 20 Jahren Vorschläge für eine europäische Migrations- und Asylpolitik gemacht. Vergebens. Es hat sich natürlich kein nationaler Politiker je getraut, seinen Wählern zu erklären: Es kann sein, dass in naher Zukunft Flüchtlinge kommen und Brüssel entscheidet dann, wie viele wir aufnehmen müssen. Jetzt sind die Flüchtlinge aber wirklich da. Und wir haben die Krise, wir haben ein gespaltenes Europa – aufgrund der nationalen Egoismen der Mitgliedstaaten.

Flyer der nationalistischen AfD: “Eurokrise stoppen”. Der veraltete Nationalstaat gibt den Menschen das Gefühl, noch Herr im eigenen Haus zu sein.

Genauso mit der Eurokrise. Man wollte eine gemeinsame Währung, aber ohne gemeinsame Fiskalpolitik, ohne Abschaffung nationaler Zentralbanken oder des nationalen Budgets, das weiterhin die heilige Kuh der nationalen Parlamente blieb. Jetzt hat man also eine gemeinsame Währung, aber keine Instrumente, um sie zu managen. Ganz zu schweigen von den Milliarden an Steuergeldern, die jährlich in den Haushalten der Mitgliedstaaten fehlen, weil es keine gemeinsamen Mittel gibt, um Steuerflucht zu bekämpfen.

Diese wenigen Beispiele zeigen schon: Alle Probleme, vor denen wir heute stehen, sind anders als die Probleme vor 40 Jahren. Sie sind globaler, sie sind tausendfach komplexer. Die Nationalstaaten, wie wir sie von früher kennen, sind nicht mehr in der Lage, diese Probleme zu lösen. Gleichzeitig hat man aber auch die EU noch nicht so weit entwickelt, dass sie die Probleme bereits lösen könnte.

In diesem Dilemma entscheiden sich sehr viele Menschen für eine Renationalisierung anstatt für Europa. Warum?
Das hat viele Gründe, pragmatische und psychologische. Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass die Menschen in der jetzigen Situation merken: Es funktioniert nicht. Dann wollen sie aber lieber zum Vertrauten zurück als in eine ungewisse Zukunft. Den Nationalstaat kennen sie, der gibt ihnen das Gefühl, hier sind sie die Hausherren und können alle Probleme für sich allein lösen, mit einem starken Mann oder einer tüchtigen Mutti an der Spitze. Aber wenn sie es nicht können, weil der Nationalstaat nicht mehr dazu in der Lage ist, dann werden die Menschen wütend. Und sie sagen: Dieser Anführer war noch nicht stark, nicht konsequent genug, wir brauchen jemanden, der noch stärker ist. Und wenn es dann wieder nicht klappt, wählen sie noch weiter rechts und dann noch weiter. Verstehen Sie, das ist ein Teufelskreis.

„Ein Politiker wie Sebastian Kurz ist für Europa und seine Bürger eine Gefahr. Er ist gefährlich, weil er prinzipienlos ist.”

Auch die neue österreichische Regierung pocht wieder stark auf nationale Interessen. Wie sieht Ihre Zwischenbilanz für Bundeskanzler Kurz aus?
Ein Politiker wie Sebastian Kurz ist für Europa und seine Bürger eine Gefahr. Seine Partei, die eigentlich immer pro-europäisch war, zwingt er jetzt, diese Linie aufzugeben, und zwar in einer Weise, die höchst perfide ist: Seine traditionellen konservativen Wähler beruhigt er mit dem Versprechen, ein europäischer Politiker zu sein – und im nächsten Augenblick wendet er sich an seine nationalistischen Wähler mit dem Versprechen, er werde in Brüssel aufräumen und es nicht zulassen, dass sich irgendjemand in nationale, österreichische Angelegenheiten einmischt. Reden Sie mit dem Kurz, fragen Sie ihn, was die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes sind – er weiß das nicht, das ist ihm alles egal. Wenn er merkt, dass es ihm Stimmen bringt, dann bricht er die Verträge einfach. Das hat es noch nie zuvor gegeben. Der Mann ist gefährlich, weil er prinzipienlos ist!

Gleichzeitig ist die EU in den Umfragen so beliebt wie noch nie. Bedeutet das, dass auch der Nationalstaat an Rückhalt verliert?
Das zeigte der Fall Katalonien sehr stark. Ich nahm damals an einem Kongress katalanischer Schriftsteller und Intellektueller teil. Meine Kollegen dort konnten es einfach nicht fassen: Niemand in Europa verstand damals, dass man in Katalonien nicht einen neuen Nationalstaat ausrufen wollte, sondern nur eine autonome Region. Sie sagten: „Wir wollen keine neue Nation. Im Gegenteil, wir wollen raus aus der Nation! Was wir wollen, ist Südtirol! Warum dürfen wir nicht auch haben, was Südtirol hat? Auch wir wollen dieses Autonomiestatut!”

Katalonien wollte nichts anderes als den politischen Status Südtirols?
Es ging ihnen genau darum. Sie wollten als eigenständige Region mit einer starken Autonomie anerkannt werden. Bei dieser Konferenz um die katalanische Frage ging es immer darum: Das künftige Europa muss ein Netzwerk von Regionen sein. Nur so lässt sich der Nationalstaat überwinden. Südtirol war dabei das große Vorbild. Und ich verstehe das. Rajoy, der damalige spanische Ministerpräsident, war ein Frankist, der wegen seiner Korruptionsaffären neulich zurücktreten musste. Die Katalanen, die sich mit dem spanischen Nationalstaat ohnehin nicht identifizierten, wollten viel lieber in ein europäisches Budget einzahlen als solche Politiker zu finanzieren. Aber in den Medien wurde das alles anders dargestellt.

Auch in Südtirol wurden die Katalanen ausgerechnet von den Separatisten gefeiert – die entweder zurück nach Österreich oder einen eigenen Staat Südtirol gründen wollen.
Die Nationalisten haben den Fall Katalonien gekapert und ideologisch ausgeschlachtet. Es ist vollkommen verrückt. Aber in Wirklichkeit war für den Großteil der Unabhängigkeitsbefürworter Südtirol das Beispiel.

„Tirol konnte geteilt werden, trotzdem ist Tirol Tirol geblieben. Die Tiroler sind weder Österreicher noch Italiener, sie sind Tiroler, aus, fertig.”

Also das autonome SVP-Südtirol von heute?
Ganz genau. Und Südtirol ist auch der Beweis, dass der Nationalstaat als identitätsstiftendes Element eine Fiktion ist. Keine politische, nationale Grenze kann die gewachsene Kultur in einer Region zerstören. Keine Nation konnte Regionen wirklich beugen. Tirol konnte geteilt werden, trotzdem ist Tirol Tirol geblieben. Die Tiroler sind weder Österreicher noch Italiener, sie sind Tiroler, aus, fertig. Ein künftiges, ein großes und geeintes Europa darf deshalb kein großer Zentralstaat sein, wo von Brüssel aus über alles entschieden wird. Dieses Europa braucht Verwaltungseinheiten. Und das können nur die Regionen übernehmen.

Ein großes Europa der Regionen also?
Das ist die Zukunft.

So wichtig das Thema auch ist – die EU klingt nicht wirklich nach einem Spannungsfaktor. Hätten Sie nicht manchmal lieber einen Liebesroman geschrieben, einen Roman über die innere Gefühls- und Gedankenwelt eines Menschen, so, wie Sie es schon früher getan hatten?
In einem guten Roman kommt das ohnehin alles vor. Darin lieben die Figuren, sie hassen, sie sind euphorisch, depressiv, haben Ideen und Geschichten – das muss alles enthalten sein. Die Frage aber, was genau man erzählen soll, stellt sich immer wieder aufs Neue. Der Roman hat den Anspruch, etwas Bedeutendes aus der Zeitgenossenschaft des Autors zu erzählen, und zwar so, dass die Zeitgenossen sich darin erkennen und spätere es verstehen. Das ist die gesamte Romantheorie in einem Satz. So, und wenn man mich jetzt fragen würde, was das Wichtige und Relevante ist, das ich aus meiner Lebenszeit erzählen will, dann muss ich mit dem europäischen Einigungsprojekt antworten. Es ist das kühnste politische Projekt in der Geschichte Europas. Und es ist wahrlich wert, darüber zu erzählen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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