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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 05.09.2016
LeuteInterview zum Thema Migration in Südtirol

„Nicht die Augen verschließen“

Kurt Gritsch erforscht Migration in Südtirol. Der Historiker über den Begriff des Gutmenschen, Rassismus im Netz und die Ursachen der Flüchtlingskrise.
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„Warum befasst man sich mit Geschichte, wenn man sich in der Gegenwart dann nicht traut, das Wort zu ergreifen?“, fragt sich Kurt Gritsch. Derzeit forscht der Historiker in einem Projekt am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck zum Thema „(Arbeits-)migration in Südtirol”. Gritsch hat sich bereits mit Büchern zum Kosovokrieg einen Namen als kritischer Beobachter des Zeitgeschehens gemacht, nun meldet er sich mit einem neuen Buch zurück: Vom Kommen und Gehen. Migration in Südtirol. (Edition Raetia). Ziel des Buches ist es, auf kompaktem Raum grundlegende Fakten zu liefern, die man für eine weitere Diskussion verwenden kann. Im Interview greift Gritsch der Diskussion bereits vor.

Was kann sich der Leser von Ihrem neuen Buch erwarten?
Das Anliegen des Buches ist, die Vielfalt des Themas Migration aufzuzeigen. Warum Menschen wandern, hat viele verschiedene Ursachen: Sie können es freiwillig tun oder aus Notwendigkeit, um Kriegen, Hungersnöten, Armut zu entfliehen. Manchen gelingt das, einige werden enttäuscht, andere sterben dabei. Das ist, auch wenn es jetzt zynisch klingt, eine Konstante in der Geschichte der Menschheit. Ziel des Buches ist es, nicht nur das aktuelle Erscheinungsbild von Migration zu beleuchten, sondern klarzumachen, dass Migration ein Thema ist, das es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben hat, zumal in Südtirol.

Wie sah denn die Migration in Südtirol aus?
Viele Menschen vergessen, dass Migration ein Ein- und Auswandern ist. Im Buch will ich unter anderem zeigen, dass auch das Auswandern für Südtirol eine große Rolle gespielt hat. Das war in der Option so, als auch in erster Linie die Menschen ohne Perspektive gegangen sind. Diese Arbeitsmigration hat sich bis in die 1970er-Jahre fortgesetzt. Rund 1.000 Südtiroler sind jedes Jahr ausgewandert. Aber auch in jüngerer Zeit wandern Menschen aus, obwohl Südtirol eine im globalen Vergleich sehr wohlhabende Provinz ist.

„Mit dem Begriff der „Flüchtlingskrise” wird der Flüchtling für eine Krise verantwortlich gemacht.“

Nun manifestiert sich Migration in Südtirol und auch anderswo in Europa vor allem als sogenannte „Flüchtlingskrise“. Was sagen Sie dazu?
Wenn wir von „Flüchtlingskrise“ sprechen, haben wir es schon mit der Rezeption von Migration zu tun: Wie wird Migration von den Menschen wahrgenommen? Mit dem Begriff der „Flüchtlingskrise“ wird der Flüchtling für eine Krise verantwortlich gemacht.

Eine Krise ist jedoch offensichtlich da, die Politik ist uneins, die öffentliche Meinung gespalten. Wenn es nicht eine Flüchtlingskrise ist, worin liegt die Krise dann?
Wenn man es vereinfachend auf einen Begriff herunterbrechen will, dann haben wir es mit einer Verteilungskrise zu tun. Wir haben in den letzten 25, 30 Jahren erlebt, wie die neoliberale Idee eines Marktes, der sich ausschließlich von selbst regelt, mehr oder weniger überall auf der Welt umgesetzt wurde. Heute bekommen wir die Folgen davon zu spüren. Die Menschen, die zu uns kommen, sind die Benachteiligten dieses Systems, in dem der Westen einen imperialen Lebensstil führt. Es wird immer offensichtlicher, dass der westliche Lebensstil darauf aufbaut, dass man anderswo Raubbau begeht, die Natur zerstört und Menschen ausbeutet oder sie um ihre Arbeitsplätze bringt. Man denke an Landgrabbing, die Freihandelsabkommen mit Entwicklungsstaaten und Billigproduktionsketten.

Sie gehen jenseits der Abschottungspolitik auf die Verantwortung des eigenen Staates ein. Läuft man da nicht Gefahr, als Gutmensch betitelt zu werden?
Gutmensch war ursprünglich die Bezeichnung für jene, die sich nur politisch korrekt äußern, inhaltlich aber nicht hinter dem Geäußerten stehen. Heute ist Gutmensch fast schon zu einem Schimpfwort für jene geworden, die nicht gleichgültig oder zynisch sind. Wenn es so gemeint ist, dann bin ich gerne ein Gutmensch. Wer aber den Begriff mit Naivität gleichsetzt, den möchte ich auf ein Kapitel im Buch hinweisen, in dem es um die Herausforderungen geht, die Migration mit sich bringt. Ich habe unter anderem berechtigte Meinungen eingefangen von Leuten, die sagen, dass es schwierig ist. Sie fragen zum Beispiel: Wie viele Menschen können wir aufnehmen und integrieren? Das sind Fragen, auf die ich keine endgültige Antwort liefern kann und will. Das muss unsere Gesellschaft im Diskurs tun. Dabei ist es unerlässlich, auch die Argumente der Skeptiker genau unter die Lupe zu nehmen und sie nicht einfach als rechtsradikal oder rassistisch abzutun. Natürlich stecken oft Emotionen dahinter, Verlustängste, die letztendlich jeder mehr oder weniger kennt. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Migration ist einfach da, man kann höchstens versuchen, sie in gewisse Bahnen zu lenken. Als Realist kann man aber nicht die Augen verschließen und sich eine Welt ohne Migration wünschen.

Selma Mahlknecht, die in Ihrem Buch ebenfalls zu Wort kommt, stellt den „Gutmenschen“ die Arschlöcher gegenüber. Das wären dann wohl jene, die am liebsten die Augen verschließen. Wie sieht es in Südtirol aus? Haben wir viele Arschlöcher?
Das ist schwierig zu quantifizieren. Ich habe im Internet einige Seiten untersucht – UnserTirol24, UnserPrissian, Iats reichts – und ich muss sagen: Ja, man findet dort rassistische Aussagen und Vorurteile, es gibt auch einzelne Beiträge, die gerichtlich verfolgt werden müssten. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass dies für die Mehrheit der Diskursteilnehmer zutrifft. Und auch wenn ich ihre Position nicht teilen kann, haben sich einige bemüht, eine gewisse Differenzierung durchblicken zu lassen. Wenn man außerdem untersucht, wie oft es zu Handgreiflichkeiten kommt, beispielsweise zu Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, dann muss man sagen, dass es hier im Vergleich zu Deutschland oder anderen Regionen keine besonders radikale Rechte gibt. Das heißt aber nicht, dass es nicht noch dazu kommen kann.

„Es gibt zwei Sorten Ratten:

Zu Beginn des Buches zitieren Sie das Gedicht „Die Wanderratten“ von Heinrich Heine. In der ersten Strophe sehe ich aber eins problematisch: Viele Einheimische zählen sich durchaus nicht zu den „satten Ratten“, nur weil sie zuhause bleiben. Daher ist es wohl verständlich, dass sie nicht noch mehr „hungrige Ratten“ im Land haben wollen.
Das ist, wie ich schon andeutete, eine Folge des Verteilungskampfes und davon, dass sich das oberste Ein Prozent immer weiter abhebt, während der Mittelstand auch in unseren Breiten stagniert, wenn nicht sogar abgebaut wird. Und dann passiert, was in der Geschichte schon oft passiert ist: Die einen, die wenig, aber immerhin noch etwas haben, treten gegen andere an, die so gut wie gar nichts mehr haben. Anstatt sich gegen jene zu wenden, die viel haben.

Woran könnte das liegen?
Das hat meiner Ansicht nach viel damit zu tun, dass mit dem Ende des Kalten Krieges der Sozialismus und alles, was irgendwie als links galt, am Ende war – teilweise auch selbstverschuldet. Links war politisch nicht mehr salonfähig, man denke etwa daran, wie die kommunistische Partei Italiens an Stimmen verloren hat. Das heißt aber nicht, dass die sozialen Fragen obsolet geworden wären. Im Gegenteil. Allerdings waren es gerade die verbliebenen sozialdemokratischen Parteien, die auf solche Fragen mit einem neoliberalen Wirtschaftsprogramm geantwortet haben. Und die Folgen beginnen wir nun langsam zu spüren.

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