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Petra Schwienbacher
Veröffentlicht
am 25.06.2014
LebenGewalt im Alter

Wenn Oma geschlagen wird

Veröffentlicht
am 25.06.2014
Ob im Pflegeheim oder zu Hause in der Familie: Alte Menschen erfahren oft Gewalt, auch bei uns in Südtirol. Darüber zu sprechen ist noch immer ein Tabu.
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„Die Pflegerin schlägt mich“, sagt Anna*. Sie ist über 80 Jahre alt und wohnt seit vier Jahren in einem Pflegeheim. Anna ist dement, redet öfter wirres Zeug, ihre Tochter Maria* glaubt ihr nicht. Bei jedem Besuch beklagt die alte Dame aber geschlagen zu werden. „Dann ist mir aufgefallen, dass sie vor einer bestimmten Pflegerin Angst hat“, sagt Maria. In dieser Nacht kann sie nicht schlafen. Am nächsten Tag stellt sie die Pflegerin zur Rede. Als sie zugibt, ihrer Mutter eine Ohrfeige gegeben zu haben, wird Maria wütend. „Sie hat gefleht, ich soll nichts sagen, weil das die fristlose Kündigung wäre“, sagt sie. Eigentlich mag sie die Pflegerin ja und sie weiß, dass ihre Mutter oft schwierig ist. Jeder macht mal Fehler, sagt sich die Frau und beschließt, den Vorfall nicht zu melden.
Später wird ihr bewusst, dass sie falsch gehandelt hat. Die Pflegerin fliegt auf, wird suspendiert und ein Verfahren wird eingeleitet. „Das ist nur ein Fall, in dem die Pflegerin vor dem Vorfall jahrelang gute Arbeit geleistet hat“, sagt Esther Jennings vom AZW, dem Ausbildungszentrum West für Gesundheitsberufe in Österreich. „Trotzdem ist es ein Übergriff, der nicht entschuldbar ist und den man nicht vertuschen darf“, betont sie.

Jennings ist eine der Initiatorinnen des italienisch-österreichischen Projektes Gewalt im Alter. Bislang haben ältere Menschen zu wenig Beachtung gefunden. Gewalt im Alter will das Tabu brechen, hinsehen und Lösungsmöglichkeiten für Laien und professionelles Pflegepersonal aufzeigen.

Beschimpfen, schubsen, schlagen

So wie der demenzkranken Anna geht es vielen alten Menschen im Heim. Bei einer Umfrage gab jede fünfte professionelle Pflegekraft an, ein- bis zweimal pro Jahr aggressiv geworden zu sein. Bei den pflegenden Angehörigen war es sogar ein Viertel. Nicht viele Fälle werden aber bekannt, die Dunkelziffer ist hoch. Tagtäglich werden in Europa 10.000 ältere Menschen misshandelt. Obwohl die Betreuung in stationären Einrichtungen auf hohem Niveau passiert und Pfleger regelmäßige Fortbildungen besuchen, kann es in Gesundheitseinrichtungen oder Seniorenheimen zu Gewaltanwendungen kommen. Auch pflegende Angehörige in der Familie können aggressiv werden. „Es gibt jede Gewalt, die man sich vorstellen kann“, sagt Jennings. Aufgrund von Überforderung werden alte Leute beleidigt, beschimpft, an den Haaren gezogen, grob angefasst oder sogar geschlagen. Aber nicht nur das ist Gewalt, so Jennings. Еs genüge schon, wenn das Essen in den Mund gestopft wird, weil die Pfleger keine Zeit haben, oder in Gegenwart der Person abfällig über sie gesprochen wird.
Ein Fall schockierte vor zwei Jahren Deutschland. Aufgekommen ist er nur, weil der Sohn einer Bewohnerin eine Überwachungskamera aufstellte.

„Die Pflegerin im Video arbeitet jetzt in einem anderen Altersheim“, so Jennings. „Es heißt nicht, dass man nicht mehr arbeiten darf, wenn man Fehler macht, aber man muss ein Coaching machen, wenn man überfordert ist“, sagt sie beharrlich. Man müsse handeln.
Alte Menschen sind wehrlos, können sich teilweise nicht mehr verständlich machen. Viele glauben, sie dürften sich nicht beschweren, schließlich bringe ihnen diese Person jeden Tag ihr Essen. Viele schämen sich darüber zu sprechen, besonders wenn sie von ihren eigenen Kindern gepflegt werden. „Sie meinen es ja nur gut mit mir“, sagen die Pflegebedürftigen häufig.

So geschah dies auch in einem Fall, in dem eine Frau zwanzig Jahre lang von ihrem Mann gepflegt wurde. Eines Tages fiel den erwachsenen Töchtern auf, dass ihre bettlägerige Mutter überall mit blauen Flecken übersät war. Im Krankenhaus stellte man fest, dass die Hämatome von einer bewussten Gewalteinwirkung stammen. Der Mann war mit der Pflege seiner Frau total überfordert. Es stellte sich die Frage: Was macht man mit der Frau? Die Töchter waren beide berufstätig und ein Pflegeheim kam für sie auch nicht infrage. „Man musste eine Lösung finden“, sagt Jennings. In diesem Fall war dies eine Tagesstätte, in der der Mann seine Frau weiterhin pflegen konnte, aber auch kontrolliert wurde, ob wieder etwas passiert. Die beiden wollten ja weiterhin zusammenleben und so wurde die Familie nicht auseinandergerissen.

Auch das Pflegepersonal erlebt Gewalt

Nicht nur die Bewohner in Pflegeheimen sind mit Gewalt konfrontiert, sondern vielfach auch die Pfleger. Oftmals reagieren pflegebedürftige Menschen aggressiv oder Pflegerinnen sind sexueller Belästigung ausgesetzt. Auch darüber wird wenig gesprochen. Jennings weiß warum: „Das Problem ist, dass die Pfleger glauben, sie müssen professionell sein.“ Das sei aber falsch, man müsse nicht alles hinnehmen, nur weil die andere Person pflegebedürftig ist. Das wollen die dreißig Experten vom Projekt „Gewalt im Alter“ bewusst machen. Was das Pflegepersonal tun kann und darf, erfährt es in Vorträgen oder eigenen Kursen, die von der Initiative angeboten werden. Wie kann eine Pflegerin zum Beispiel damit umgehen, dass ihr ein Bewohner ständig auf den Hintern grapscht? Das Wichtigste sei, darüber zu sprechen, sagt Jennings. Die Pflegerin soll dies sofort der Pflegedienstleitung zu melden, um gemeinsam Lösungen zu finden, wie zum Beispiel: Das Bett wird gemacht, wenn der Bewohner nicht anwesend ist.

Gewalt erkennen und Probleme lösen

Um solche konkreten Lösungsvorschläge geht es seit 2012 im Projekt Gewalt im Alter des AZW in Zusammenarbeit mit dem Amt für Senioren und Sozialsprengel und dem Amt für Ausbildung des Gesundheitspersonals Südtirols. „Mit der Zeit wird mehr über das Tabuthema Gewalt im Alter gesprochen“, weiß Jennings. Seit Kurzem gibt es in Südtirol erstmals eine Hotline für ältere Leute, die mit Gewalt konfrontiert sind: 800 001 800.
Jennings plädiert darauf, hinzusehen, Zeichen der Gewalt zu erkennen und zu melden, sei es als Pfleger oder als Angehöriger. Denn so wie Anna geht es weit mehr Menschen, als wir glauben. Heute geht es der älteren Dame wieder gut und sie ist richtig glücklich im Heim. „Ich sehe, wie ruhig sie ist. Seit diese Betreuerin weg ist, jammert sie nicht mehr und hat keine Angst“, sagt ihre Tochter Maria erleichtert.

*Name von der Redaktion geändert.

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