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Veröffentlicht
am 04.11.2014
LebenEingesperrt

Tausend und eine Nacht

Veröffentlicht
am 04.11.2014
Agnes S. beginnt im Spätsommer ihre verbleibenden Tage im Gefängnis zu zählen. Die Hälfte ihrer Haftstrafe liegt noch vor ihr.
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Frühjahr 2010. Früher war ich oft neugierig, wie es ein Mensch schaffen kann, jahrelang eingesperrt zu leben. Mir kommt es vor, als wäre ich schon eine ganze Ewigkeit eingesperrt. Ich weiß nicht, wie ich es bis 2014 aushalten soll. Diese Vorstellung muss ich mir immer gleich aus dem Kopf schlagen und Tag für Tag versuchen, etwas zu finden, was mich hält.

Panikattacken und Selbstmordversuche

Es sind so viele hier, die fast Tag und Nacht fernsehen, sich nicht bewegen, kaum ins Freie gehen, Psychopharmaka schlucken und gesundheitlich und nervlich zu Grunde gehen. Auch bei uns Frauen gibt es Selbstmordversuche, zum Glück nur Versuche. Immer wieder passiert es, dass jemand total durchdreht, meistens in der Nacht und vor allem Neuankömmlinge. Wenn sie nicht aufhören, vor Panik zu schreien, alles um sich werfen, ihren eigenen Kopf an die Wand zu schlagen, was wir durch schaudererregende, dumpfe Töne zu verstehen bekommen, werden die Aufseher der Männerabteilung zum Einsatz gerufen, die sie mit Gewalt in die Krankenabteilung bringen müssen, wo sie ein Beruhigungsmittel injiziert bekommen.

Einer Mutter von drei Kindern aus einer Zelle am Ende des Flurs passiert es mehrere Male, dass sie auf den Boden sackt, kaum mehr Lebenszeichen gibt, mit dem Rollstuhl in die Krankenabteilung transportiert und dann gleich ins Krankenhaus eingeliefert wird. Tablettenüberdosis sagt man. Von einer bestimmten Zelle in unserer Abteilung wird erzählt, dass sich dort vor wenigen Jahren eine Frau das Leben genommen haben soll. In der Abteilung B hatte sich vor etwa einem Jahr eine Inhaftierte am Fenster erhängt. Sie wurde von den Aufseherinnen jedoch bald entdeckt und überlebte. Sie ist noch bei uns und hat eine lebenslängliche Haftstrafe vor sich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie damit zurechtkommen soll. Sie ist etwa vierzig Jahre alt, sehr mager und kraftlos. Ich habe nie genau nach dem Grund ihrer Verurteilung gefragt. Oft ist mir lieber, wenn ich es nicht weiß. In meiner Abteilung leben Frauen, die ihren Mann umgebracht haben und solche die wegen Kindesmord verurteilt sind. Von zwei Frauen erfährt niemand, warum sie da sind, weil sie nichts erzählen und das Gefängnispersonal Schweigepflicht hat.

„Ich muss auf mich selbst schauen.“

Wie soll hier die vom Gesetz vorgesehene Rehabilitation funktionieren, frage ich mich immer wieder. Oft halte ich mir einfach die Ohren zu, um nicht alles Deprimierende mitzubekommen. Ich muss auf mich selbst schauen, ich kann da nichts ändern, so gerne ich das tun würde. Ich möchte gesund von hier rauskommen. Der einzige Ausweg für mich ist Ablenkung und Beschäftigung. Ich bewerbe mich für eine Arbeit. Es gibt hier geregelte Arbeiten mit Entlohnung als Köchin, Putzfrau und Magazinarbeiterin. Als Köchin komme ich wegen meines Wirbelsäulenproblems überhaupt nicht in Frage. Sie stellen mich auf die Warteliste für eine eventuelle andere Arbeit. Es sind sehr wenige, die das Glück haben, arbeiten zu können und wenn, dann sind ihre Arbeitszeiten sehr kurz. Eine Putzfrau zum Beispiel hat einen Turnus von einem Monat pro Jahr, wenn‘s gut geht vielleicht zwei. Den Köchinnen ergeht es besser, weil nur wenige auf der Wartelisteliste stehen. Sie können auch Vollzeit arbeiten.

In der Hoffnung vom Sozialdienst in Südtirol ein monatliches Taschengeld zu bekommen, so wie dies in der Therapiegemeinschaft möglich war, stelle ich dafür ein Ansuchen. Es kommt jedoch wenige Tage darauf die Ablehnung mit der Begründung, dies sei für Gefängnisinsassen nicht vorgesehen. Ich erinnere mich, wie man mir an einem meiner ersten Tage hinter Gittern auf die Frage „Gibt es hier zum Frühstück keine Butter oder Marmelade?“ geantwortet hat: „Weißt du denn nicht, wo du dich befindest?!“ Es gab nur trockenes Brot. Mir ist das hier noch alles lieber als die Schikanen, die ich in der Therapiegemeinschaft erlebt habe. Dort hätten sie mir helfen können und ich könnte schon jetzt zu Hause bei meinen Kindern sein. Ich ärgere mich über sie. Dem Gericht haben sie berichtet, dass ich ihr Therapieprogramm verweigert hätte, in Wirklichkeit hatten sie mich vom Programm ausgeschlossen. Im Mai 2010 schicken sie mir noch ein geöffnetes Postpaket vom Februar 2009, mit der Nachricht, dass sie dieses noch in ihrem Büro gefunden hätten. Ja, es ist Post von meiner Freundin aus Deutschland mit Briefpapier und Büchern. Ich hatte schon gedacht, sie hat mich fallen lassen, stattdessen hat sie so lange auf meine Antwort gewartet. Ich fasse es nicht!

„Ich will nach Hause!“

Mir bleibt nichts anderes übrig, als für das Allernötigste wieder zu betteln. Mit den Worten „Bitte lege mir wenn möglich ein paar Briefmarken bei“ enden meine Briefe. Immer wieder finde ich Hilfe und bin dankbar. Ich vertiefe mich in die Malerei. Von den freiwilligen Helfern werden unsere Bilder ins Stadtzentrum von Bologna zu einer Ausstellung gebracht. Dort treffen sich Bekannte von mir, ich darf selbst aber leider nicht dabei sein. Für drei Monate besuche ich den Nähkurs von „Cefal“, so kann ich auch abschalten und die Mauern ringsherum etwas vergessen. Unsere Kursleiterin kämpft seit über einem Jahr für die Eröffnung einer Schneiderei, um uns Arbeitsplätze zu schaffen.

Ab und zu dürfen wir für ein Theater oder ein Konzert in die große, neugebaute Kirche ins Männergefängnis rüber, natürlich unter Aufsicht, in einer Reihe die Frauen, in der anderen die Männer. Ich freue mich jedes Mal darauf, obwohl ich nie weiß, was mich erwartet. Von den Inhaftierten wird ein schwieriges Theaterstück von Dostojewski aufgeführt. Diego Matheuz aus Venezuela dirigiert einmal das Mozart Orchester, eine tolle Musik! Einmal gibt es ein Konzert mit Liedern in deutscher Sprache von Gustav Mahler, die mich sehr berühren. Ich höre hier sonst die deutsche Sprache nie, auch der Fernseher hat nur italienische Sender und kein Mensch spricht deutsch, so dass mir diese Sprache schon fremd vorkommt. Ein anderes Mal gibt es ein Konzert mit verschiedenen Instrumenten, die von jungen Leuten gespielt werden. Ich höre den „Kanon in D-Dur“ von Johann Pachelbel. Oh Gott, dieses Stück habe ich selbst mal bei einem Orgelkonzert gespielt. Ich spüre wie die Tränen in mir hochsteigen. Diese Töne, ich kenne sie genau, schmerzen meiner Seele. Oh nein! Könnt ich doch laut heulen! Wo bin ich?! Das ist doch nicht mein Platz hier! Warum muss ich so lange hier bleiben!? Ich will nach Hause!

Besuch von daheim

Zurück in den Alltag: mich beruhigen, malen, schreiben, nähen, töpfern, im Hof die Runden laufen, Gymnastikübungen machen und sonntags die Messen spielen. Ich schreibe mich für die Universität ein, „Disziplin für Kunst, Musik und Theater“. Hier habe ich doch Zeit in Hülle und Fülle und ich lerne gerne.

Meine Leute geben mir auch immer wieder Mut mit ihren netten Briefen. Ab und zu kommen mich meine Kinder besuchen. Beim Eingang müssen sie oft zwei bis drei Stunden warten für eine Stunde Besuchszeit, was nach der langen Fahrt sehr frustrierend ist. Einer meiner früheren Nachbarn, er heißt Luis und ist mit mir einst in unserem kleinen Bergdorf zur Volksschule gegangen, möchte mich schon längst besuchen. Er wohnt eine Stunde von hier entfernt. Auch eine Freundin von mir aus Bologna wartet schon lange. Im Dezember des Vorjahres haben wir für die Besuchsgenehmigung angefragt. Bei „dritten Personen“ braucht es Geduld, diese zu erlangen. Nach sechs vollen Monaten haben wir endlich erreicht, dass mich die beiden für eine Stunde im Monat besuchen dürfen. So bekomme ich ab Mai 2010 regelmäßig Besuch. Sie bringen Kirschen, Schüttelbrot von zu Hause und alles Mögliche, was erlaubt ist.

Die Zeit vergeht, die einen gehen, die anderen kommen. Jede Insassin zählt die Tage, bis der große Moment da ist und es heißt: „Du darfst nach Hause!“ oder „Du bist frei!“. An einem Tag im Spätsommer zähle auch ich wieder. Ich komme auf tausend und eine Nacht. Die Hälfte meiner Haftstrafe liegt noch vor mir.

Von Agnes S.

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