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Veröffentlicht
am 03.10.2017
LebenNeuer Roman von Lenz Koppelstätter

Nachts am Brenner (1-2)

Veröffentlicht
am 03.10.2017
Lenz Koppelstätters dritter Südtirolkrimi erscheint am kommenden Donnerstag. Auf BARFUSS gibt es einen Vorabdruck zum Reinschnuppern.
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Kapitel 1

Grauner spürte, wie sich die Schweißperle löste. Erst kam sie nur stockend voran, wie eine Badehose auf einer trockenen Wasserrutschbahn. Dann nahm sie Fahrt auf, sprintete den Rücken hinab und kitzelte ihn an den untersten Wirbeln. Der Commissario fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und die Arme, doch es half alles nichts. Er war völlig verschwitzt.

Die Luft war dick, es schien, als könnte man sie mit den Händen fassen, zu Knödeln formen. Die Fensterläden der Questura waren geschlossen, doch die Hitze drang durch jede Ritze des morschen Holzes. Schon seit Jahren forderten die Mitarbeiter der Polizia di Stato eine Klimaanlage, doch da war nichts zu machen.

Grauner schnappte sich die Wasserflasche, beim Berühren des Plastiks spürte er, dass der Inhalt teewarm war. Er schleppte sich auf den Gang, schleppte sich zu den Toiletten, hielt den Kopf in das Waschbecken und drehte den Hahn auf. Kaltes Gebirgsnass. Wie gut das tat.

Es gab Tage, da hätte Johann Grauner, der im Hauptberuf Commissario in Bozen war und nebenher Viechbauer, sein Leben am liebsten mit dem einer seiner Milchkühe getauscht. Mit der Mara, der Mitzi oder der Olga. Besonders im Sommer überkam ihn dieses Verlangen. Jetzt, da seine Kühe auf den Wiesen eines befreundeten Almbetreibers standen. Die frische Sommerkühle in der Früh, der Duft des aufgeheizten Grases, der Klee, die Glockenblumen, die Vergissmeinnicht, die Bienen und Hummeln, die sich arglos mit einem Schwanzschwenker verscheuchen ließen, die frischen Kuhfladen, die über der Baumgrenze ganz anders rochen als unten im Stall. Würziger. Wie Delikatessen. Ein himmlischer Duft, der mit jedem kräftigen Bergkäse mithalten konnte.

Nur eines würde er als Kuh auf der Alm vermissen: seine geliebten Mahler-Sinfonien, die er immerfort zu hören pflegte, im Stall, im Auto, in der Stube auf der Ofenbank.

Grauner summte auf dem Weg zurück ins Büro die ersten Takte von Mahlers Lied von der Erde vor sich hin, als ihm der Ispettore entgegenstürzte. Auch Claudio Saltapepe schwitzte, und Grauner spürte, wie sich die Schadenfreude in ihm ausbreitete. Sein Kollege aus Neapel, der sich tagein, tagaus über die für seinen Geschmack zu niedrigen Temperaturen in dieser Alpenprovinz beschwerte, über die eiskalten Winter, die ihm nicht behagten, weil er bislang weder auf Skiern noch auf Schlittschuhen gestanden hatte, weil er noch nie einen Schneemann gebaut hatte oder in eine Schneeballschlacht verwickelt gewesen war.

Saltapepe schwitzte und keuchte, als er bei Grauner ankam, sodass er die ersten Worte nur halb und unverständlich herausbrachte.

»Gerade hat jemand angerufen. Vom Brennero. Von der Staatsgrenze. Der örtliche Commandante der Polizei. Er … er … Wir sollen hochfahren.«

Grauner blieb ganz ruhig. Die vielen Jahre als Commissario hatten ihn gelehrt, dass man noch lange nicht irgendwo hinzueilen hatte, nur weil jemand aufgeregt in der Questura anrief. Man musste diese Aufgeregtheit an sich abperlen lassen. Sonst machte man sich verrückt. War ja klar, dass jemand, der hier anrief, aufgeregt war. Schließlich war die Polizeistelle keine Pizzeria, bei der man sich nach den Öffnungszeiten erkundigte, kein Kino, bei dem man Karten reservierte, keine Radiostation, bei der man sich sein Lieblingslied wünschte.

Jeden Tag wurde in der Questura der Polizei oder in der Kaserne der Carabinieri aufgeregt angerufen. Um den Nachbarsbauern anzuschwärzen, weil der die Granny Smith vom eigenen Moos geklaut habe. Um sich über die Polizeistreife zu beschweren, die abends nach dem Feuerwehrfest eine Alkoholkontrolle durchgeführt hatte. Das sei ja eine Unverschämtheit, ausgerechnet nach dem Feuerwehrfest, warum nicht morgens, nach der Messe? Und warum waren der Bürgermeister und der Feuerwehrhauptmann, die auf dem Fest stundenlang am Schnapsbudl gezecht hatten, nicht kontrolliert worden?

Viele riefen auch einfach nur an, um sich zu entrüsten. Über irgendetwas. Über das Wetter, über den Landeshauptmann, der es nicht für nötig gehalten hatte, zum letzten Almabtrieb ins Passeiertal zu kommen. Über das laute Sirenengeheul letzte Nacht in Gfrill, wo Grauners Leute zwei um die Gunst einer Magd streitenden Bauern davon abgehalten hatten, mit zerbrochenen Blauburgunderflaschen aufeinander loszugehen. Der ganz normale Provinzpolizistenwahnsinn.

Eigentlich liebte Grauner sie ja, diese Anrufe. Wenn er sich die Probleme anderer Leute anhörte, kamen ihm die eigenen so klein und nichtig vor. Solange nichts Schlimmeres passierte, war doch alles in bester Ordnung, hier, in diesem beschaulichen Südtirol, wo der Himmel blauer strahlte, wo der Gipfelschnee des Ortler, des König, des Klockerkarkopf weißer schien, wo der Kalkfels der Dolomiten abends röter glühte als andernorts, wo der Vernatsch einen fröhlich machte und der Speck satt.

Solange kein Mord passierte, hier, an diesem wunderschönen Fleckchen Erde, so lange hörte sich Grauner diese Anrufe gerne an, geduldig, durch nichts aus der Ruhe zu bringen, so, wie seine Mara, seine Mitzi, seine Olga das Heu zu kauen pflegten. Solange er sich nicht um eine Leiche kümmern musste, besonders bei der schwülen Hitze, so lange war die Welt für ihn in Ordnung.

»Grauner!«

Saltapepe riss den Commissario aus den Gedanken.

»Ja, Claudio, warum sollen wir denn an den Brenner kommen? Gibt’s eine Leiche, denn wenn es keine Leiche gibt, dann …«

»Ja, es gibt wohl einen Toten«, unterbrach ihn der Ispettore. »Zumindest Teile davon. Die haben da Stücke von Zähnen gefunden – und Gehirnmasse. Mitten auf der Straße. Sieht alles nach einem schrecklichen Verbrechen aus.«

Kapitel 2

Die Blechkolonne der Polizeiwagen zog sich über die Autobahn durch das felsige Eisacktal. Commissario Grauner saß bei Saltapepe im Alfa, das Blinken der Blaulichter spiegelte sich in den Fenstern der Autos, die sich, von den Sirenen erschrocken, zwischen den Lkw in der rechten Spur einreihten.

Die Autobahn verlief auf hundert Meter hohen Betonsäulen, sie verschwand in orange erhellten Tunneln. Irgendwo da auf dem Berg stand auch Grauners Bauernhof, da oben war das Paradies, man konnte nicht hinuntersehen in die tiefe Schlucht, durch die schon die Römer ihrerzeit gen Norden gezogen waren.

Am Berg war alles grün, von Grauners Bauernhof aus war der Blick auf den Schlern unverstellt. Unten war alles dunkel und grau. Die Autobahn kreuzte die rostbraunen Gleise der Zugstrecke und die blauen Wirbel des Eisacks, der sich über Jahrtausende in den Felsen gegraben hatte. Diese Strecke war die pulsierende Hauptschlagader des Landes, durch die man in die verästelten Täler und zu den idyllischen Postkartenorten zwischen den Bergen gelangte.

Saltapepe drückte aufs Gaspedal. Es waren nur hundertzehn Stundenkilometer erlaubt, der Tacho zeigte hundertsechzig an. Grauner verstand diese Hektik nicht, diese Eile, das hatte er noch nie getan. Die Leiche würde bleiben, wo sie war, und ja, man musste geschwind zu ihr eilen, weil erste Spuren, erste Zeugenreaktionen immer das Wichtigste waren, um Fälle zu lösen. Aber es ging doch nicht um Sekunden.

Grauner verdrehte die Augen, als Saltapepe einen deutschen Urlauber mit Kanu auf dem Dach und zwei Fahrrädern am Heck seines polierten silbernen C-Klasse-Mercedes nach rechts hupte. Eigentlich mochte der Commissario die Autobahn. Dank ihrer Hässlichkeit erschien seine Heimat drumherum noch schöner. Außerdem gab ihm die Betonspur das Gefühl, immer wegfahren zu können, wenn er es wollte. Bisher hatte er es allerdings noch nie gewollt.

Man muss sich die Welt anschauen, um zu verstehen, dass es zu Hause doch am schönsten ist.

An diesen Spruch hatte Grauner noch nie geglaubt. Hier war es schön genug, mehr musste er nicht wissen. Er schaute sie gerne an, diese Autobahn, er sah zu, wie sie alle hin- und herfuhren, und es wunderte ihn, wie viele Menschen hin- und hermussten, selbst sonntags, selbst zu Weihnachten. Er war froh, keiner von ihnen zu sein.

Er mochte die Autobahn, wenn er mit etwas Abstand den Verkehr darauf beobachten konnte. Er mochte sie nicht, wenn er selbst darauf unterwegs war. Dann war sie ihm nicht geheuer. Vom freien Fall auf das Gestein und in den Eisack nur durch eine Leitplanke getrennt.

Saltapepe fuhr zu schnell in eine der Kurven, er musste abbremsen, zurückschalten. Grauner warf es zuerst nach links, dann nach vorne, der Sicherheitsgurt hielt ihn zurück.

»Scusami«, entschuldigte sich der Ispettore und schaltete wieder in den Fünften.

Bei Brixen wurde das Land etwas flacher, das Wipptal löste das Eisacktal ab, Sterzing war aufgetaucht und wieder im Rückspiegel verschwunden, kaum merklich zog die Steigung nun an, der Alfa tat sich schwer, er war für ebene Autobahnstrecken zwischen Mailand und Modena gemacht, nicht um zum Pass der Pässe zu gelangen. Zu diesem niedrigsten und doch widrigen Übergang der Alpen. Zu diesem Nadelöhr Europas.

Lenz Koppelstätters Roman „Nachts am Brenner” erscheint am 5. Oktober 2017 als Taschenbuch und E-Book im Verlag Kiepenheuer&Witsch.
(ISBN: 978-3-462-05008-0, 336 Seiten)

Lenz Koppelstätter, Jahrgang 1982, ist in Bozen geboren und in Südtirol aufgewachsen. Nach dem Studium der Politik in Bologna und der Sozialwissenschaften in Berlin absolvierte er in München die Deutsche Journalistenschule. Als freier Autor hat er u. a. für den Tagesspiegel und Zeit online gearbeitet, als Textchef für zitty. Für BARFUSS hat er zwei Kolumnen verfasst: 865 Kilometer und Auch schon 30. »Nachts am Brenner« ist nach »Der Tote am Gletscher« und »Die Stille der Lärchen« der dritte Band der Krimireihe.

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