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Veröffentlicht
am 13.12.2013
LebenEingesperrt

Mutters Beerdigung

Veröffentlicht
am 13.12.2013
Nach zwei Wochen im Gefängnis stirbt plötzlich die Mutter. Die Fahrt nach Hause ist eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz.
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Die Zellnachbarin und ich begrüßen uns, sie legt ihr Gepäck ab. Mit dabei hat sich auch einen durchsichtigen Sack voll mit Keksen, der mich an den Nikolaus erinnert. Langsam ordnet sie ihre Sachen ein, während wir voneinander ein wenig erzählen. Sie wirkt sehr zerschlagen, ist trotzdem nett zu mir und hat auch zehn Tage Isolierhaft hinter sich. Vorsichtig frage ich sie, ob ich mal in die Kekstüte riechen darf, ich bin so ausgehungert nach Süßem, das es hier nicht gibt, außer mit Geld oder wenn Besuch kommt. „Natürlich“, sagt sie, „du kannst dann auch essen, nur nicht alle auf einmal“. Wir lachen. Noch nie fand ich Keksgeruch so gut. „Vielen Dank!“

Erfahrene Zellnachbarin

Sie kennt sich aus mit Gerichtssachen und dem Gefängnisleben und erklärt mir mit Geduld auch meine Anklageschrift. Mit fünf bis sechs Frauen dürfen wir ab jetzt Kontakt haben, Duschraum und Bibliothek benützen, in den Hof gehen und uns drei Stunden am Tag gegenseitig in den Zellen besuchen. Wir sind unter Hochsicherheit, diesen Trakt gibt es in Rovereto und Verona nicht. „Aber wir haben doch niemanden umgebracht!“, sage ich zu ihr. „Was wir verbrochen haben, ist scheinbar schlimmer, wir sind wegen „Kriminellenvereinigung“ angeklagt. Die Mörderinnen sind im normalen Trakt“, erklärt sie mir.

„Ihre Mutter ist gestorben“

Es ist Dienstag, der 27.November 2007. Während wir „Hochsicherheits-Frauen“ in einem kleinen Raum einen Kinofilm anschauen dürfen, der von freiwilligen Helfern angeboten wird, werde ich zur Inspektorin gerufen: „Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihre Mutter gestorben ist. Es tut uns Leid und wir möchten unser Beileid ausdrücken. Übermorgen werden Sie zur Beerdigung nach Hause gebracht.“ Ich bedanke mich und gehe ins Kino zurück. Schweigend schaue ich auf die Leinwand und registriere gar nichts mehr. In mir läuft ein anderer Film ab: Meine Mutter, was die alles mitgemacht und für uns getan hat, ich wollte ihr noch so vieles erzählen und für sie machen. Es ging ihr in den letzten Monaten nicht gut, Altersschwäche und ein Beckenbruch setzten ihr zu. Sie kommt aus der Schweiz, war 85, trotz Schmerzen hatte sie immer ein sonniges Gemüt. Ich kann es nicht glauben. Meine Gefühle sind gespalten zwischen der Freude nach Hause zu fahren und dem Schmerz genau jetzt die Mutter zu verlieren. Mit niemandem kann ich darüber sprechen. Nur meine Zellnachbarin ist da.

Zwei Tage später, um zwei Uhr nachts, werde ich geweckt, ich räume rasch alle meine Habseligkeiten zusammen und ab in einen kleinen, eisernen Käfig. Ich werde zunächst ins Gefängnis Verona übersiedelt. Nach langen Wartezeiten geht es am selben Tag und ohne Essen weiter über Trient nach Südtirol in mein Heimatdorf. Meine Begleiter sind freundlich zu mir. Punkt 14 Uhr kommen wir an, die Glocken läuten und zwei von ihnen, ein Mann und eine Frau in Zivil, bringen mich zur Kirche, wo ich in meiner Volksschulzeit zu den Rorateämtern gegangen bin, die mit den Kerzenlichtern eine harmonische Weihnachtsstimmung erzeugt haben. Die Töne der Glocken sind genau dieselben wie früher. Mein Zeitgefühl spielt verrückt, mir kommt es so vor, als ob ich schon Monate von zu Hause weg bin.

Abschiednehmen von Mutter

Beim Kircheneingang warten wir auf die Prozession, das Kreuz voraus, ein paar Leute, Kränze, dann der Sarg, mir kommen die Tränen, dann sehe ich meine Familie. Mit meinen Begleitern reihen wir uns ein und gehen in die Kirche. Der Sarg vorne, darauf ein Foto von Mama und Blumen. Meine Mutter hatte Blumen sehr gerne. Der Chor singt ihr Lieblingslied: „Näher mein Gott zu dir …" Die Orgel schweigt, auf der ich viele Jahre selbst gespielt habe. Mir bricht es das Herz und Bäche von Tränen laufen über mein Gesicht. Meine Begleiter reichen mir ein Taschentuch. Meine Musik ist mir genommen, das tut so schrecklich weh! Von den Stimmen des Chores kenne ich jede einzelne. Die Worte des Pfarrers gefallen mir. Die Messe ist schnell vorbei und es geht zum Friedhof zum Grab meines Vaters. Meine Schwester reicht mir eine weiße Rose. Mein Bruder drückt mir die Hand, ohne Worte schauen wir uns an. Einer nach dem anderen nimmt Abschied von unserer Mutter, besprengt den Sarg mit Weihwasser und reicht uns die Hand, um Beileid auszudrücken.

In dem kleinen Tal kennt jeder jeden. Mein Gefühl sagt mir, ich sehe jetzt nochmals alle und dann lange nicht mehr, wenn überhaupt. Das bringt mich wieder zum Heulen. Die Leute kommen und gehen, die Menge löst sich auf und ich kann endlich meine ganze Familie und meine Freunde aus der Schweiz und von überall her begrüßen, umarmen, die Freude des Wiedersehens und das Leid der Verabschiedung teilen. Wir hätten uns so vieles zu erzählen, aber die Zeit ist zu kurz. Ich lasse mir von meiner Schwägerin ein belegtes Brot und etwas zum Trinken für die Rückreise besorgen. Wir gehen alle bis zum Gasthaus, meine Begleiter und ich wären auch eingeladen, aber sie müssen die Verordnung ihrer Vorgesetzten befolgen und dürfen die Einladung nicht annehmen. Deshalb muss auch ich draußen bleiben.

Abschiednehmen von Zuhause

„Jetzt müssen wir gehen!“, sagt einer meiner Wärter. Obwohl er freundlich und respektvoll klingt, dreht es mir den Magen um. Ich mache automatisch einige Schritte zum Straßenrand und erbreche mit leerem Magen. Ich erhole mich langsam und muss mich von meinen Lieben verabschieden. Meine älteste Schwester sehe ich nicht mehr. Mein zweijähriger Neffe winkt mir noch mit seinen leuchtenden Augen nach, bis ich aus dem Blickfeld verschwinde. Meine Kinder begleiten mich zum Wagen. „Wir sehen uns bald wieder, macht es gut und wir schreiben uns!“ Eine letzte Umarmung mit meiner Tochter und ich steige in den Wagen.

In der dunklen Zelle eingesperrt, das Brot in der Jackentasche, geht die Rückfahrt los. Im Stehen schaue ich schnell durch das Eisengitter, der Platz vor dem Gasthaus leert sich, die Häuser des Dorfes und die Kirche werden kleiner und kleiner und verschwinden hinter einer Kurve. Ich setze mich auf den harten Stuhl, gar nicht komfortabel. Ich sitze alleine in der kleinen Zelle des Gefängniswagens, ich kann mich kaum umdrehen, Eisenwände um mich herum. Bald überkommt mich ein ununterbrochener Brechreiz. Die Tüte des Brotes kommt mir zugute. Es zerreißt mich fast. Ich finde keinen Trost, meine innere Kraft ist am Ende. Meine Wärter fragen, ob sie anhalten sollen. „Wird schon gehen, danke. Sie können ruhig weiterfahren“.

Irgendwann machen wir dann doch eine Pause, kurz in die frische Luft, die Tüte entsorgen. Es geht mir wieder besser, ich kann dann auch das Brot essen, nur mein Kopf scheint zu platzen vor Schmerzen. Ich habe die ganze Fahrt geweint. In Verona bekomme ich eine Zelle alleine, ich brauche Ruhe.

Von Agnes S.

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