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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 19.04.2017
LebenWIR-Projekt an Grundschulen

Die Schule des Streitens

Strafsitzen, Eintragungen, Mitteilungen nach Hause: Das war einmal. Kinder sollen jetzt lernen, Konflikte selbst zu lösen. Eine Grundschulklasse gibt Einblick, wie das geht.
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„Tobias hat mich wieder gezwickt!“ Die siebenjährige Anna läuft mit Tränen in den Augen zur Lehrerin, die gerade Pausenaufsicht hat, zeigt ihr die rote Stelle auf ihrem Oberarm. Immer dieser Tobias. Die Klassenlehrerin ist es inzwischen gewohnt, dass sein Name fällt, wenn irgendetwas nicht läuft. Was nun in der Regel folgen würde, ist eine Geschichte, die den meisten noch aus eigener Erfahrung bekannt ist: Schuldzuweisungen unter den Kindern, Geheul, Gezeter, und die Lehrerin, die in die Rolle des Richters gerät. Um diese unliebsame Rolle rasch wieder loszuwerden, würde sie den Wortgefechten der Kinder umgehend ein Ende setzen und erklären: „Zwicken, das geht einfach nicht!“ Tobias, der nicht das erste Mal durch Handgreiflichkeiten auffiel, bekäme eine schriftliche Mitteilung an die Eltern und müsste während der Pause auf der „Strafbank“ sitzen. Die Lehrerin wüsste nicht, was Tobias zu Hause erwarten würde. Dass er in der Vergangenheit schon ein paar Mal eine Ohrfeige oder ein paar auf den Hintern zu spüren bekommen hatte, um für sein schlechtes Verhalten bestraft zu werden. Genützt hatte das offenbar nichts, die Aggressivität in Tobias war nur noch stärker geworden.

Doch dieses Mal geht alles anders. Noch bevor die Dinge ihren üblichen Lauf nehmen können, fragt Anna die Lehrerin: „Machen wir eine Elefantenrunde?“ Auch Tobias will die Elefantenrunde. Einverstanden, sagt die Lehrerin. Anna wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Gleich darauf klingelt es, die Pause ist zu Ende. In der Klasse setzen sich die Schülerinnen und Schüler im Kreis hin, es geht los.

Affe und Adler stehen den Kindern symbolisch bei

Elefantenrunde, das ist ein Konzept, das zu Beginn des Schuljahres eine eigens ausgebildete Trainerin in die Schule gebracht hat. Anna erhält von der Lehrerin den Redestein. Wer den in der Hand hält, darf sprechen, die anderen müssen zuhören. Wenn einer fertig gesprochen hat, ist der nächste an der Reihe. Damit immer nur einer spricht und jeder ausreden darf. Es geht nun erst einmal darum, was genau passiert ist. Tobias hatte zuerst eine Diskussion mit Laura, und weil Anna sich bei ihnen eingemischt hat, hat Tobias sie gezwickt. Schuldzuweisungen gibt es hier keine mehr. Bei der Elefantenrunde spricht jeder nur von sich selbst: Wie habe ich die Situation wahrgenommen? Was hat mich verletzt? Was brauche ich, damit es mir wieder gut geht? Unter der Aufsicht dreier Plüschtiere, des Affen, der für die Wahrnehmung der eigenen Gefühle zuständig ist, des Adlers, der weiß, wo die Grenzen zu setzen sind, und des Elefanten, der den Blick auf die ganze Gemeinschaft hat, verarbeiten die Zweitklässler ihren Konflikt. Am Ende versteht Anna Tobias‘ Motive: Er will seine Auseinandersetzungen selbst ausführen, ohne dass sich jemand einmischt. Tobias hingegen versteht, dass er lernen muss, Grenzen zu setzen, ohne handgreiflich zu werden. Bis hin zum Schluss hat die Lehrerin die Runde moderiert. Zu Richtsprüchen war sie nicht ein einziges Mal genötigt.

Bildung ist mehr als nur das Akkumulieren von Wissen

Die Elefantenrunde ist eine Methode, die aktuell als Teil des WIR-Projekts an mehreren Südtiroler Grundschulen praktiziert wird. Das Projekt ist nur eines von mehreren, die in den letzten Jahren gestartet wurden, um den Kindern nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, sondern auch die Fertigkeit, miteinander umzugehen. Die Zeiten, in denen es in der Schule nur darum ging, in den jeweiligen Fächern gute Noten mit nach Hause zu bringen, sind vorbei. Als Bildungsinstitution übernimmt die Schule inzwischen weitreichendere Aufgaben. Dass zur Bildung nicht nur der Aufbau von Wissen, sondern auch die emotionale Bildung und die Persönlichkeitsbildung dazugehören, steht in den Rahmenrichtlinien des Landes ja eigentlich schon lange festgeschrieben.

Das klingt schön und gut. Dennoch spürt man – vor allem bei manchen Eltern – auch die Frage aufkeimen: Warum sollte man ein System reformieren, das sich im Grunde ja bewährt hat? Bisher wurde meist klar getrennt: Für die Vermittlung von Wissen ist die Schule und für die Erziehung der Kinder sind die Eltern zuständig. Nun erhebt die Schule auch den Anspruch auf die Erziehung der jungen Menschen. Von der Idee her eigentlich nichts Neues. Jean-Jacques Rousseau war einer der ersten, die behaupteten, bei der Bildung ginge es darum, Menschen zu eigenständig denkenden Individuen zu erziehen, und nicht nur zu studierten, aber hörigen Systemmarionetten. Damit inspirierte er später Pädagogen wie Maria Montessori oder Johann Heinrich Pestalozzi, die nach Rousseaus Erziehungsideal eigene Schulen gründeten. In den Mainstream des Schulsystems haben es diese Ideen aber nie geschafft. Das könnte sich jetzt – zumindest was einen Teil jener Ideen betrifft – ändern.

„Kinder lernen besser und sind konzentrierter, wenn die Klassengemeinschaft funktioniert.“

Michaela Schlomm, selbst WIR-Trainerin, war schon in einigen Schulen unterwegs, um Kindern, Lehrpersonen und Eltern die Strategien der Konfliktbearbeitung nahezubringen. Außerdem ist sie im Schulamt – im Bereich Innovation und Beratung – für die Themen Integration und Deutsch als Fremdsprache zuständig. Klar, Persönlichkeitsbildung und -förderung sei wichtig, das sagt auch sie. Doch selbst wer am traditionellen Bild der Schule festhält und sie lediglich als Einrichtung der Wissensvermittlung betrachtet, der dürfe Projekten wie dem WIR-Projekt doch einiges abgewinnen. „Kinder lernen besser und sind konzentrierter, wenn die Klassengemeinschaft funktioniert“, sagt Schlomm. Allein deswegen lohne es schon die Mühe, den Kindern Strategien zur Konfliktbewältigung nahezubringen. Ein Kind, das gemobbt wird oder einen ungelösten Streit mit seinen Klassenkameraden hat, das hat keinen Kopf mehr für das Einmaleins oder die korrekte Verbkonjugation.

Gefühlsduselei oder lebenswichtige Fertigkeit?

Ein anderes Instrument, das den Zweitklässlern Tobias und Anna am Herzen liegt, ist das Gefühlsrad. Jedes Kind hat eine Wäscheklammer und darf diese zu Beginn eines jeden Tages an einem Bereich des Gefühlsrads anbringen. Auf dem Gefühlsrad sind vier große Gefühlszonen vertreten: Wut, Trauer, Freude und Angst. Natürlich können die Kinder auch eine Mischung aus mehreren Gefühlen, ein ganz anderes Gefühl oder auch einfach gar nichts empfinden. Oder die Stimmung eines Kindes verändert sich im Laufe des Tages. Anna zum Beispiel hatte an jenem Morgen ihre Wäscheklammer in den Bereich der Trauer gezwickt, weil die Katze ihres Nachbarn überfahren worden war. Nach der Aussprache mit Tobias sah man ihre Klammer aber im Freude-Bereich. Michaela Schlomm ist überzeugt: Der Umgang der Kinder untereinander ist ein ganz anderer, wenn sie wissen, wie es dem anderen geht. Außerdem lerne man auf diese Weise früh genug, die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Es gebe genug Erwachsene, die das, was so einfach und banal klingt, sehr schlecht beherrschen.

Das Gefühlsrad – heute ist offenbar ein guter Tag.

Alles nur Gefühlsduselei? Vielleicht. Es gab Lehrerpersonen, die mit dieser Methode des Projekts weniger anfangen konnten. Die Kinder selbst scheinen davon begeistert zu sein. Als ein Schüler wegen eines Umzugs gezwungen war, die Schule zu wechseln und er seine alte Lehrerin auf der Straße wieder traf, sagte er: Ihm gehe es in der neuen Schule gut, aber was er am meisten an der alten vermisste, sei das Gefühlsrad. Einer anderen Schülerin kamen die Tränen, als sie am Ende des Schuljahres Abschied von Affe, Elefant und Adler nehmen musste.

Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu erkennen, gewaltlos Grenzen zu setzen, und konfliktreiche Situationen analysieren und lösen zu können: Das sind Fähigkeiten, die auch später im Leben gefragt sind. Ob es nun um die Soft Skills im Lebenslauf, um das Zusammenleben in der Familie oder gerade auch um hohe Politik geht. Wohl aufgrund solcher Überlegungen wurde das WIR-Projekt mit dem Preis „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet. Das ist ein Preis, der sonst nur an sozial oder politisch aktive Vereinigungen vergeben wird.

Weil dieses Projekt noch relativ jung ist, gibt es allerdings keine Langzeitstudien zur Auswirkung auf die Entwicklung der Kinder. Bislang sind da nur die subjektiven Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer; sie sagen, dass der Klassenzusammenhalt in den neuen Klassen stärker ist als sonst. Bei anderen, vergleichbaren Projekten gibt es auch schon Zahlen. Annalies Tumpfer, die beim Schulamt ebenfalls im Bereich Innovation und Beratung arbeitet, hat einen guten Überblick auf alle Projekte, die derzeit in Südtirols Schulen angesiedelt sind. Eines der ältesten heißt „Eigenständig werden“. Das Projekt zielt auf Gewalt- und Suchtprävention und schult Lehrpersonen schon seit 2001. Eine Studie hat die Klassen, in denen das Projekt umgesetzt wurde, mit anderen Klassen verglichen. Das Ergebnis der Studie bewies: Kinder, die beteiligt waren, zeigten eine signifikant geringere Gewaltbereitschaft als die Kinder aus den Kontrollklassen.

Die Initiative geht von den einzelnen Schulen aus

Was aber, wenn ein Kind auf diese Methoden gar nicht anspringt? Wenn es beispielsweise die Grenzen, die ein anderes Kind ihm setzt, nicht respektiert? Anna könnte ohne weiteres fortfahren, sich in Tobias‘ Angelegenheiten einzumischen. Dass sie seine Grenzen respektiert, dafür gibt es keine Garantie. Oder noch schlimmer: Tobias könnte weiterhin andere Kinder zwicken, stoßen, schlagen, wenn ihm etwas nicht passt. Egal, wo deren Klammer auf dem Gefühlsrad dann hängen wird. Für solche Fälle sind meist andere Maßnahmen vorgesehen, dafür sind Psychologen oder Fachpersonen, die pädagogisch geschult sind, zuständig. „Die Elefantenrunde oder das Gefühlsrad sind präventive Instrumente“, stellt Schlomm klar.

„Ein einfaches ‚Iatz tiats ober wieder gschoffen‘ reicht den Kindern nicht. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen.“

Grundschullehrerin Daniela hatte dieses Jahr zum ersten Mal eine Klasse, in der das Projekt durchgeführt wird. Was sie am WIR-Projekt besonders schätzt, ist, dass es sich als Präventionsmaßnahme nicht nur auf die Schüler und Lehrer beschränkt, sondern auch die Eltern miteinbezieht. Auch zu Hause sollen die Grundsätze und Strategien, die in der Schule erlernt werden, angewandt werden. „Das Ganze kann nur funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen“, ist die junge Lehrerin überzeugt. Obwohl es auch skeptische Eltern gibt, kann sie sich bei ihrer eigenen Klasse nur an kooperative Eltern erinnern. Eher, so sagt Michaela Schlomm, werde man mit der Frage konfrontiert: „Warum habt ihr so etwas nicht schon früher gemacht?“

Die Frage dürfte wohl auch in Zukunft noch aufkommen, wenn neue Projekte gestartet werden. Aber so einfach ist das gar nicht. Ein Projekt hat nur Sinn, wenn es in der ganzen Schule implementiert wird, nicht nur in einer Klasse. „Wenn all das, was man sich in einer Klasse angeeignet hat, im nächsten Jahr keine Rolle mehr spielt, vergessen die Kinder es wieder“, sagt Schlomm. Ihre Kollegin Annalies Tumpfer bedauert außerdem, dass diese Aktionen hauptsächlich durch Projekte von außen am Leben erhalten werden. Damit es einen langfristigen Nutzen stiftet, müssten die Aktionen aber im Schulprogramm verankert werden. Das Schulamt kann das allerdings nicht einfach im Schulprogramm festschreiben, denn die einzelnen Grundschulen haben eine weitreichende Autonomie. Von jeder einzelnen Schule hängt es also ab, was genau den Kindern mit auf den Weg gegeben wird.

Lehrerin Daniela, deren Grundschule den Schritt schon gemacht hat, ist sich jedenfalls sicher: „Ein einfaches ‚Iatz tiats ober wieder gschoffen‘ reicht den Kindern nicht. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen.“

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