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Veröffentlicht
am 26.10.2016
LebenSozialgenossenschaft VergissMeinNicht

Die „Grenzgänger”

Veröffentlicht
am 26.10.2016
Für Behinderten-Werkstätten sind sie zu „normal", am Arbeitsmarkt können sie aber auch nicht bestehen. Die Sozialgenossenschaft VergissMeinNicht fängt solche Grenzgänger auf.
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Die Nähstube – ein Ort für alle.

Die Eltern sind am Limit. Schon kurz nach der Geburt ihres Kindes wissen die Ärzte, dass etwas nicht stimmt, aber niemand kann sagen, was genau. Ihr Kind wird immer Entwicklungsrückstände haben, wird prognostiziert. Die Eltern wissen nicht, was genau das bedeutet, wie es weitergehen soll oder welche Therapien helfen könnten. Das einzige, was sie wissen, ist: Sie haben Angst davor, es nicht zu schaffen. Aber im gleichen Moment sind sie sicher, dass sie nicht aufgeben werden.

Die liebevoll als „Grenzgänger“ bezeichneten Menschen, sind keine Menschen mit Behinderungen, aber auch keine „Normalentwickelten”. Sie wissen, dass sie anders sind und setzen sich dadurch selbst unter Druck. Sie leiden unter der Situation und fühlen sich unter stärker beeinträchtigten Menschen – wie in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen – unwohl und deplatziert, gleichzeitig sind sie jedoch den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht gewachsen. Sie fallen aus dem Raster.

Für einen Sinn im Leben

Grenzgänger werden in der Schule so gut es geht gefördert. Doch irgendwann ist die Schulzeit zu Ende und die große Frage steht im Raum: Wie geht es nun weiter? „Ich weiß, welcher Leidensdruck auf den Familien lastet, wenn diese Jugendlichen nach der Pflichtschule zu Hause sitzen und keinen Sinn in ihrem Leben erkennen“, sagt eine Mutter. Eine flexible Struktur für Grenzgänger gab es damals, als ihre Tochter die Oberschule beendete, nicht. Deswegen beschloss sie vor drei Jahren, selbst etwas zu unternehmen und dies zu ändern.

Um anderen Familien zu helfen und anderen Grenzgängern eine Zukunftsperspektive zu geben, hat sie gemeinsam mit der Integrationslehrerin Alexandra Sequani die Sozialgenossenschaft VergissMeinNicht gegründet. Vor einem Jahr wurde aus der Idee ein Inklusionsbetrieb: eine Nähwerkstatt, in der Grenzgänger zusammen mit Freiwilligen und Sozialpädagogen flexibel arbeiten können – in den Bereichen Verwaltung, Produktion und Verkauf.

Ponchos, Jacken, Taschen – all das wird von den Grenzgängern genäht. Sie kümmern sich aber auch um Verwaltung und Verkauf.

Die Grenzgänger sind stolz auf das, was sie selbst von Hand geschaffen haben: gehäkelte rote, grüne und blaue Handtaschen, hochwertige Ponchos aus Walkstoffen und Kaschmir, Taschen aus recycelten Planen vom MessnerMountainMuseum und Kunstinstallationen, Schürzen und Brotkörbe aus Hanf.

Die Nähwerkstatt VergissMeinNicht liegt im ersten Stock oberhalb eines Holzladens in Bruneck. Zurzeit arbeiten hier vier Grenzgänger, zwei Sozialpädagogen, drei Schneiderinnen und 15 freiwillige Näherinnen zusammen. Hier ist es egal, wenn die Grenzgänger nicht jeden Tag pünktlich um acht Uhr zur Arbeit kommen – obwohl das mittlerweile fast immer klappt. Und es ist egal, wenn sie mal laut werden, weil sie gerade eine Krise haben.

„Wenn Krisen kommen, haben die Grenzgänger keinen Zwang oder Druck, dass sie weiterarbeiten müssen. Wir respektieren das und sie können sich Zeit nehmen.“

VergissMeinNicht schafft für Grenzgänger die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und autonomer zu werden. Jeder einzelne wird individuell gefördert. „Wenn Krisen kommen, haben die Grenzgänger keinen Zwang oder Druck, dass sie weiterarbeiten müssen. Wir respektieren das und sie können sich Zeit nehmen“, sagt Psychologe Roman Patuzzi. Er arbeitet als Körpererzieher und Kampfkunstlehrer in Bruneck und ist regelmäßig in der Sozialgenossenschaft.

Die Grenzgänger können ihre Arbeit bei VergissMeinNicht immer wieder wechseln oder auch mal Kaffee trinken gehen, wenn sie raus müssen. Das wäre bei normalen Arbeitgebern wirtschaftlich nicht möglich. „Das bestehende System mit den Werkstätten ist gut und passt auch für den Großteil, aber es braucht eben auch diesen Zusatz“, sagt Patuzzi.

Zusätzlich zur Nähstube hat die Sozialgenossenschaft gemeinsam mit der Lebenshilfe ein Freizeitprogramm ins Leben gerufen. Grenzgänger von sechs bis 15 Jahren werden in Yoseikan-Budo-Gruppen des Sportvereins integriert und von Patuzzi und seiner Tochter trainiert. „Es ist wichtig, dass die Grenzgänger auch außerhalb der Schule eine Beschäftigung haben“, ist er überzeugt. Patuzzi weiß aus Erfahrung, dass Eltern von Grenzgängern oft an ihre Grenzen stoßen. „Ich bin mir sicher, dass die Dunkelziffer der Familien groß ist, die die Situation einfach akzeptieren und aufgegeben haben, etwas verbessern zu wollen, weil es einfach sehr belastend ist.“

Autonom leben können

VergissMeinNicht finanziert sich zurzeit noch durch Soziosponsoring von Unternehmen aus Bruneck und durch private Spender. Nur ein kleiner Teil der Einnahmen kommt von öffentlicher Hand und vom Verkauf der Produkte. Das Ziel der Sozialgenossenschaft ist es, sich bald eigenständig finanzieren zu können und das Angebot zu erweitern. Zum Beispiel für Senioren. Auch sie seien Grenzgänger, denn auch sie fragen sich oft nach dem Sinn im Leben, sie suchen nach einer Aufgabe.

Den Grenzgängern fiel es am Anfang schwer, sich an die neue Arbeit in der Nähstube zu gewöhnen. „Jede Veränderung ist für diese besonderen Menschen eine Herausforderung“, sagt Patuzzi. Mittlerweile haben sich aber alle akklimatisiert. Sie sind viel selbstständiger geworden und fühlen sich wohl hier, auch wenn eine Grenzgängerin neulich zu ihrer Mutter sagte: „Du darfst mir nicht böse sein, aber in Pension werde ich hier nicht gehen.“


Am 4. November 2016 findet die offizielle Eröffnung von VergissMeinNicht und die Einweihung des neuen Ladens in der Altstadt von Bruneck statt.

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