Ein großgewachsener Mann im Kleid, mit wallendem, rotem Kunsthaar versenkt seine Zunge im Ohr seines Nebenmannes. Halbglatze, High Heels und Hüftspeck zieren die Gestalt eines anderen, sein Körper steckt im eng geschnürten Korsett. Mit stolzgeschwellter Brust trägt er es an einem Tag wie diesem. Es ist die 18. Ausgabe der Wiener Regenbogenparade und die Ringstraße Bühne für Exoten: Heute gelten keine Konventionen, heute gilt das Recht des Bunteren. Und wer sich nicht traut, der steht abseits und sieht zu.
Da stehen wir dann auch, am Straßenrand und warten und knipsen und wissen nicht, wo zuerst hinschauen. Es ist der Aufmarsch des Grotesken, des Unangepassten, eine ständige Beleidigung des gutbürgerlichen Geschmacks. Menschen in Ganzkörperanzügen, Männer in Frauenkleidern und Frauen so nackt wie Eva in Gottes Paradies. Trucks mit posierenden Dragqueens, vor den Karren gespannte SM-Anhänger und blankgewachste Männerbrüste, die im Technorausch vibrieren. „Jeder Körper ist ein schöner Körper", deklamiert das Schild um den Hals einer älteren Frau, deren monströse Oberweite unbedeckt darunter hervorquillt. Heute wird von der Leine gelassen, was man den Rest des Jahres versteckt hält. Da dreht sich niemand verstohlen um, da wird ungeniert mit dem Finger draufgehalten und die Kameras reißen sich um das ausgefallenste Kostüm.
So viel inszenatorischer Fleiß muss belohnt werden. Am Heldenplatz, Start- und Endpunkt der Regenbogenparade, bekommt die Wiener Aids-Hilfe den ersten Platz für den schönsten Paradewagen. Am Stand des gemeinnützigen Vereins hilft die 24-jährige Südtirolerin Jessica. Eine ganze Woche war die Aids-Hilfe hier im Einsatz, die Parade war nur der bunte Gipfel der engagierten Veranstaltung. Die Grünen fordern die gleichgeschlechtliche Ehe, Vereine wie „Familien Andersrum“ vorenthaltene Rechte ein und die Wiener Aids-Hilfe leistet Aufklärungsarbeit. Mit kostenlosen HIV-Tests, Kondomen und Broschüren mit klingenden Titeln wie „Besser Blasen“.
Mittendrin in der Parade verebbt das tosende Meer dann plötzlich. Bässe verstummen, hochgereckte Fahnen sinken und die Selbstinszenierung weicht einer Minute stillen Gedenkens an AIDS-Opfer und Opfer von Intoleranz und Hass. „In den letzten Jahren haben sich christliche Gruppen hier aufgebaut und mit dem Rosenkranz in der Hand gebetet“, erzählt Jessica am Aids-Hilfe-Stand. Sie leugnen die Existenz der Immunschwächekrankheit. Wie gegenwärtig HIV tatsächlich ist, belegen Zahlen. Österreichweit kommt es täglich zu ein bis zwei Neuinfektionen. In der Aids-Hilfe Wien wird derzeit monatlich etwa dieselbe Anzahl bei HIV-Tests nachgewiesen. Diese Zahl schwankt zwar maßgeblich, Tatsache aber ist, dass viele Infektionen lange unbemerkt bleiben. In Südtirol zählte man im vergangenen Jahr 15 Neuinfektionen. Auch hier liegt die Dunkelziffer wohl höher.
Paradebesucher bleiben stehen, Jessica versorgt sie mit Kondomen und Broschüren. Einer lehnt die Broschüre freundlich ab, mit dem Hinweis: „Ich weiß schon, dass ich positiv bin, gib die besser jemand anderem." Die Zahl der weltweiten Neuinfektionen ist seit einigen Jahren rückläufig. Zugleich gibt es immer mehr Menschen, die mit dem Virus leben – weil ihre Lebenserwartung durch bessere Therapiemöglichkeiten steigt.
Es ist 18.00 Uhr, Feierabend für Jessica. Madonnas „Like a Virgin“ leitet von der Veranstaltung am Wiener Heldenplatz über zum nächtlichen Partyprogramm. Der stolze Aufmarsch zieht weiter und verteilt sich im Laufe der Nacht auf Clubs und Bars, verliert sich im samstagabendlichen Getümmel. Männer in orangefarbenen Anzügen befreien mit einem großen Aufgebot an Müllwägen, die Straßen von Bierdosen, Lametta und bunten Fahnen. Morgen geht alles wieder seinen gewohnten Gang.
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