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Lea Schwellensattl
Veröffentlicht
am 23.08.2022
LebenZehn Jahre Theaterwerkstatt

„Ganz viel Menschlichkeit“

Veröffentlicht
am 23.08.2022
Die Theaterwerkstatt im Haus der Familie am Ritten bringt Jugendlichen jedes Jahr mehr als nur das Schauspielen näher. Dieses Jahr feierte das Projekt sein zehnjähriges Bestehen. Ein Lokalaugenschein.
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Auf dem roten Bobbycar sitzt ein Junge, der viel zu groß für ein solches Gefährt ist. Mit Schwung saust er an einem Vormittag im August durch die vom Regen nasse Wiese den Hang hinunter. Neben ihm laufen weitere Jungen, die nur schwer mit dem Tempo mithalten können. Kurz vor der Terrasse vor den Zuschauerplätzen bremst er ab. Applaus brandet auf für den – doch etwas gewagten – Auftritt.

So beginnt die Aufführung der zehnten Ausgabe der Theaterwerkstatt im Haus der Familie am Ritten. Vom 7. bis zum 13. August erlaubte das Projekt Jugendlichen zwischen 11 und 16 Jahren aus ganz Südtirol, sie selbst zu sein, ihre Gedanken, Interessen und Probleme auszudrücken. Eine Woche lang verbringt eine Gruppe von 40 bis 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern Zeit miteinander und arbeitet ein Theaterstück aus, das am Ende aufgeführt werden kann, aber nicht muss. Das Projekt, das vom Südtiroler Theaterverband, dem Haus der Familie und vom Land unterstützt wird, ist längst über die anfängliche Grundidee hinausgewachsen.

Es herrscht eine familiäre Atmosphäre, jeder kennt jeden.

Eine halbe Stunde vor der Aufführung ist es noch ruhig. Das Gelände rund um das Haus der Familie wird von abreisenden Gästen bevölkert, die ihre Koffer bis zu ihren Autos schleppen. Am Rande stehen Wilhelm Theil (37), von allen nur „Willy“ genannt, und Michael Pichler (46), der sich als „Michl“ vorstellt. Gemeinsam mit Teresa „Tere“ Staffler (33), Benedikt „Ben“ Vyplel (41), Laura Boob (37) und Rosa-Maria „Rosi“ Presta (38) bilden sie das Referententeam der Theaterwerkstatt. Wichtig ist ihnen jedoch, dass trotz des Altersunterschieds alles auf Augenhöhe passiert: Niemand wird hier mit Sie angesprochen, Betreuerinnen und Betreuer werden von allen nur bei ihrem Spitznamen gerufen. Willy wird immer wieder von den neu eintrudelnden Zuschauern überschwänglich begrüßt und umarmt. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre, jeder kennt jeden.

Wilhelm Theil, Musiker und Medienpädagoge, und die Sängerin Teresa Staffler sind schon seit Beginn des Projekts mit dabei. Jedes Jahr freuen sie sich darauf, die Woche am Ritten zu verbringen. Sie stehen in einer Runde mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmer Tasja Biasi, Alma Breitenberger, Marius Ploner, Lena Gasser und Nadja Unterhauser, und erzählen vom wahren Ziel hinter der Theaterwoche, sowie von ihren schönsten Erinnerungen an die letzten zehn Jahre des Projekts. Immer wieder werden kleine Scherze gemacht, es wird gelacht, die Atmosphäre ist entspannt.

Willy Theil und Teresa Staffler

Wie würdet ihr die Theaterwerkstatt in wenigen Worten beschreiben?
Tasja Biasi: Man kann hier so sein wie man ist. Man kommt hier an, kann reden und seine Ideen rauslassen, ohne dass dich irgendjemand verurteilt. Das macht die Theaterwerkstatt aus.

Das Projekt wird als ergebnisoffene Woche bezeichnet – die Aufführung am letzten Tag ist also nicht das Ziel. Was ist dann das Ziel der Theaterwerkstatt?
Wilhelm Theil: Es gibt sehr viel für Kinder bis acht oder zehn Jahren, aber in dem Alter von 11 bis 16 gibt es sehr viel weniger. Das ist auch der Grund, warum wir genau mit dieser Alterskategorie arbeiten. Die Theaterwerkstatt ist fundamental wichtig.

Teresa Staffler: Das Ziel, dass am Samstag etwas präsentiert werden soll, gibt es nie, das bleibt immer offen. Aber für uns als Team haben wir das übergeordnete Ziel, allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit zu schaffen, sich kreativ auszutoben, sich zu finden, sich ausdrücken zu können, den Gedanken freien Lauf zu lassen und einfach sein zu können, wie sie sind. Kommt das bei euch als Teilnehmer auch so an?

Alle Jugendliche in der Runde nicken.

Willy Theil: Du kannst dir immer viel ausdenken, wohin du willst oder was du tun möchtest. Aber schlussendlich ist jede Gruppe individuell. Du kannst nicht vorher sagen, wir schneidern den Anzug genau so zu, denn dann passt er nicht. Deshalb bringen wir als Referenten nur die Stoffe mit und machen anschließend alles gemeinsam.

Alma Breitenberger: Das Coole ist genau das: Jede Stimme ist wichtig und man wird ernst genommen. Deshalb kommt auch immer etwas Tolles heraus, weil jeder dazu beiträgt. Es sind persönliche Geschichten.

Wie sieht der Alltag konkret aus? Was habt ihr jeden Tag gemacht, gibt es da einen Plan?
Marius Ploner: Einen konkreten Alltag gibt es, vor allem in den ersten Tagen, nicht. Da geht es ums Kennenlernen. Die Gruppe muss zusammenwachsen, damit überhaupt so etwas entstehen kann. Wir entscheiden vor oder nach dem Essen, was wir in den nächsten drei vier Stunden machen.

Teresa Staffler: Die einzige Struktur, die vorgegeben wird, sind die Essenszeiten.

Marius Ploner: Ja, daran halten wir uns. An die Schlafenszeiten vielleicht weniger. (lacht)

Eine große Familie: Jeder und jede hat bei diesem Projekt die Möglichkeit, sich kreativ auszutoben, und sein zu können, wie sie sind.

Die Vorbereitungen laufen noch und die Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen Platz. Während sich die Ränge mit Eltern, Geschwistern und Freunden der Teilnehmenden füllen, sind noch Klänge aus dem Proberaum vernehmbar. Sie lassen erahnen, was das Publikum erwartet. Schließlich ist es so weit und eine Gruppe von jungen Menschen steht auf einer Wiese, der “Bühne”.

Nach dem Auftritt des Bobbycar-Fahrers greift das Stück immer wieder aktuelle und für die Jugendlichen relevante Themen auf. In einer Szene liest ein Mädchen einen Brief an sich selbst vor. Sie steht in der Mitte, um sie herum scharen sich die anderen Jugendlichen. Etwas unsicher beginnt sie zu lesen und man erfährt, dass sie mit den Schönheitsidealen der modernen Welt zu kämpfen hat. Sie fühle sich nicht schön und wolle so aussehen wie die anderen Mädchen. In einer nächsten Szene kommt ein Junge von der Schule nach Hause und erzählt seinen Eltern zerknirscht, dass die Klassenarbeit nicht gut gelaufen ist. Die Mutter ist aufgebracht und will sofort mit dem Lehrer sprechen, der Vater hingegen sitzt entspannt daneben und isst sein Mittagessen. Es flammt ein Streit zwischen den Eltern auf, sie machen sich gegenseitig Vorwürfe. Trotz allem ist das Stück alles andere als ernst.

„Leben, lieben, lachen, weitermachen!“, so der Refrain des Songs, mit dem das Schauspiel endet, fasst die Botschaft gut zusammen.

Durch selbstkomponierte Songs, einer Tanzeinlage und unterhaltsamen Dialogen entsteht eine lockere Stimmung. Mit einfachen Mitteln – einem Seil und Requisiten aus Karton – gelingt es der Gruppe, das Publikum zu unterhalten. „Leben, lieben, lachen, weitermachen!“, so der Refrain des Songs, mit dem das Schauspiel endet, fasst die Botschaft gut zusammen. Auch wenn nicht immer alles perfekt läuft, bleibt einem nur dies übrig. Es ist ein besonderes Theaterstück, die Rollen wirken authentisch – denn die Jugendlichen spielen sich selbst. Das Lied „Mir sein Stars“ spiegelt die Philosophie des Projekts wieder: Jeder und Jede der Teilnehmenden ist wertvoll und leistet einen Beitrag. Und das alles ganz ohne Leistungsdruck oder Stress.

Was nehmt ihr aus dieser Woche an Erfahrungen und Erinnerungen mit?
Tasja Biasi:
Energie!

Marius Ploner: Ich finde, man lernt aus dieser Woche sehr viel. Sei es für das Leben, sei es musikalisch oder für das Theater. Man lernt Sachen, während man Spaß hat, das ist das Ziel der Theaterwoche. Sie bereitet dich ein bisschen auf das Leben vor, wir erhalten viel von den Referenten und dem ganzen Team. Sie sind eine sehr große Hilfe beim Erwachsenwerden.

Willy Theil: Was ich mitnehme, ist ganz viel Menschlichkeit. Die schönen Dinge am Mensch sein. Davon gibt es nicht nur schöne, aber die nehme ich mit.

Teresa Staffler: Für mich fühlt es sich so an, als würde ich meinen Akku aufladen. Ich verbringe Zeit mit tollen Menschen.

Willy Theil: Das stimmt. Es gibt aber den mentalen und den physischen Akku – der physische ist leer, der mentale ist voll. (lacht)

Alma Breitenberger: Man möchte einfach jede einzelne Sekunde, die man hier hat, nutzen und mit den Menschen verbringen, bei denen man sein kann, wie man ist.

Lena Gasser: Es entstehen ganz besondere Freundschaften und weil man sich nur einmal im Jahr sieht, sind sie viel intensiver.

Willy Theil: Ich habe auch Workshops gemacht, die Vormittag stattgefunden haben, das ist etwas völlig Anderes. Du kannst dich vielleicht auf das Technische konzentrieren, aber dass so ein spirit in der Gruppe entsteht, ist sehr schwierig. Da hast du immer wieder einen cut drinnen, die Teilnehmer gehen um 14 Uhr nach Hause und kommen wieder in ihren normalen Alltag hinein. Hier leben wir zusammen. Am Abend passiert noch viel, wenn du dann bis 12 im Zimmer bist und redest. Diese Kontinuität brauchst du für eine kurze, intensive Zeit, um so etwas wie die Theaterwoche entstehen zu lassen.

Marius Ploner: Die Nachtstunden sind die produktivsten!

Tasja Biasi: Auch das Alter macht keinen Unterschied mehr.

Willy Theil: Das ist krass, da zwischen einem Zwölfjährigen und einem Sechzehnjährigen doch ein riesiger Unterschied ist. Aber für uns ist es wichtig, dass dieser Altersunterschied besteht, auch zwischen den Kids und den Betreuern. Wenn wir es schaffen, uns alle auf Augenhöhe zu begegnen, dann hat jeder das Konzept verstanden. Ich kann mit Tere gleich reden wie mit Tasi, Lena oder Alma. Es herrscht nicht diese teilweise natürliche, aber nicht verständliche Hierarchie, nur weil der eine ein wenig älter ist als der andere. Jeder von uns kann das bestätigen, da er selbst einmal Kind war und weiß, wie die Erwachsenen auf ihn reagiert haben.

Alma Breitenberger: Deshalb fühlt man sich hier auch so gut aufgehoben, man spürt, dass man verstanden wird, von den Gleichaltrigen, aber auch von den Referenten. Sie verstehen, wie man selbst denkt und fühlt, was im Kopf vorgeht.

Nadja Unterhauser: Ich habe im letzten Jahr das Peers-Projekt [Anm. d. Red.: ein Projekt, bei dem ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Betreuerinnen und Betreuer bei der Werkstatt mitmachen können] gemacht, ich war also zwischen den Kindern und den Referenten. Anstatt zu den Autoritätspersonen ins kalte Wasser geschmissen zu werden, wurde ich gut aufgenommen und konnte am Abend ratschen wie mit Gleichaltrigen – trotz des Altersunterschiedes. Sonst ist man nur mit Gleichaltrigen der Klasse oder Schule unterwegs. Es ist total ungewohnt, aber im positiven Sinne.

Nach der Aufführung wird ein Kurzfilm über die 10 Jahre der Theaterwerkstatt gezeigt. Zu sehen sind Fotos der letzten Jahre, anschließend ist das Cover des Albums „Bunte Wege“ auf der Leinwand zu sehen. Im Rahmen der Songwerkstatt, die jeweils ein Wochenende im Jänner und April dieses Jahres angeboten wurde, wurden Songs aus den zehn Jahren der Werkstatt aufgenommen. Dafür bewarben sich auch ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes, um gemeinsam mit dem Musikproduzenten Chris Kaufmann ein Album zu erstellen. Die Songs sind nun auf allen gängigen Musik-Streamingplattformen verfügbar.

Albumcover

Teresa und Willy, ihr seid von Anfang an mit dabei. Habt ihr in den letzten zehn Jahren Veränderungen zwischen dem, wie es damals war, und dem, wie es jetzt ist, bemerkt?
Teresa Staffler: Absolut! Zwischen Falten und nicht mehr so lange wach bleiben können (lacht)… Das ganze Team hat in den letzten zehn Jahren auch eine Familie gegründet, da verändert sich das Leben. Was mir gut gefällt ist eben auch, dass die ganzen Kids der Referentinnen mit dabei sein können, das ist gar kein Thema.

Willy Theil: Wir haben uns mehr aufeinander eingespielt, rein teammäßig. Wir zwei verstehen uns mittlerweile echt schon blind, wir müssen uns nur anschauen und dann versteht der andere schon was man meint. Natürlich nicht immer, oft gibt es Missverständnisse, aber wenn es dann passiert, ist es umso schöner. Man versteht sich einfach gut, man weiß genau, wo die Stärken und Schwächen des anderen sind und wie man das gegenseitig ausloten kann. Das geht alles ineinander.

Teresa Staffler: Wie ein Zahnrad.

Was sind eure schönsten Erinnerungen an die Theaterwerkstatt der letzten Jahre?
Alma Breitenberger: Das Jahr 2020. Das war für mich sicherlich das intensivste Jahr, da es das erste Corona-Jahr war. Wir waren eine kleine Gruppe von 30 Leuten und sind sehr schnell zusammengewachsen, wir haben uns alle gut verstanden. Wir konnten eine Auszeit von der Pandemie nehmen, ohne Maske, mit Freunden, normale Freiheiten. Das hat dieses Jahr sehr geprägt.

Tasja Biasi: Da sind auch sehr intensive Gespräche entstanden. Wir haben über Themen wie Sexismus geredet und jeder hat mitgeredet, niemand hat sich geschämt, etwas zu erzählen.

Teresa Staffler: Für mich sind es auch die Lieder. Wir haben das Album mit Chris Kaufmann aufgenommen und es ist lustig, dass ich bei jedem Song, den ich höre, Bilder und Szenen im Kopf habe. Dann kommt der spirit, den wir während der Woche hatten, wieder in mir auf. Sobald ein Song läuft, legt sich bei mir ein Schalter um und ich bin wieder bei der Theaterwerkstatt. Es ist wie eine musikalische Oase im Alltag.

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