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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 26.09.2017
LebenObdachlose Migranten

„Sie nehmen uns alles“

Hunderte Menschen in Bozen sind obdachlos, darunter viele Asylbewerber. Gegen sie geht die Stadtverwaltung besonders hart vor. Und hält sich dabei nicht ans Gesetz.
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21.05.2015_Bozen_Foto-Armin Mutschlechner.jpg

Auf den ersten Blick sieht Zahid fast wie 30 aus. Dabei liegt das nur am Stirnrunzeln und an den Falten, die sich zuweilen um seine Augenwinkel legen. Sobald der Ernst aus seinem Gesicht verschwindet und Zahid lacht, erkennt man sein tatsächliches Alter: 17 Jahre. Seine tiefe Männerstimme ist in diesen Tagen noch rauer als sonst. Immer wieder muss Zahid husten. Er ist stark erkältet. Die kühlen Nächte in der letzten Woche haben ihm schwer zugesetzt – so wie vielen obdachlosen Flüchtlingen, die unter den Betonpfeilern der A22 oder an anderen, relativ geschützten Orten in Bozen ein notdürftiges Nachtlager aufschlagen.

„Mit ausreichend Decken ginge es ja“, sagt Zahid voller Optimismus. Er ist sich sicher, dass seine Situation nur vorübergehend ist. Bald werde er die nötigen Dokumente bekommen, um hier leben und arbeiten zu dürfen. Dann wird er seinen kränklichen Eltern das Geld schicken können, das nötig ist, damit sie gute ärztliche Pflege bekommen. Das war von Anfang an das Ziel seiner Reise, die ein Jahr und acht Monate dauerte. Sie führte den Jugendlichen von seinem Heimatland Pakistan bis nach Italien. Die Gegenwart sieht allerdings eher düster aus. Und trotz seines Optimismus’ gibt es eben nicht immer ausreichend Decken für Zahid – auch dann nicht, wenn auf dem Rosengarten schon der erste Schnee liegt.

Caritas und Freiwillige können gar nicht so schnell Nachschub leisten, wie die Sachen wieder verschwinden.

Dass die Decken fehlen, hat einen Grund. „Vor einer Woche haben sie uns alles weggenommen“, berichtet Zahid: „Sie kamen am frühen Nachmittag, als wir in der Essensausgabe am Verdiplatz waren.“ Jeden Tag geht Zahid zusammen mit anderen Männern aus Pakistan für eine warme Mahlzeit dorthin. Auch sie haben keine Unterkunft. Abgesehen von den Rucksäcken können sie ihre Habseligkeiten – hauptsächlich Decken und Kleider – nicht ständig mit sich herum tragen. Sie bleiben also dort zurück, wo die Männer ihren Schlafplatz haben. Als sie an jenem Nachmittag nach der Essensausgabe wieder dort ankamen, dachten sie zunächst, sie hätten die richtige Stelle verfehlt. Denn da war nichts mehr – keine Decken, keine Kleider, nur ein paar Leintücher. Es war offensichtlich: Das war ihr Schlafplatz, doch jemand hatte ihnen alles weggenommen. „Die Nacht damals war sehr kalt. Ein einziges Leintuch war nicht genug“, sagt Zahid und hustet wieder.

Zahids Fall fügt sich nahtlos in eine Reihe ähnlicher Berichte und Zeugenaussagen. Als Verantwortlicher für diese sogenannten Räumungen geht aus den Berichten die Stadtverwaltung hervor: Die Räumungen sind ein organisiertes Zusammenspiel zwischen Stadtpolizei und SEAB, der Betrieb der Gemeinde Bozen, der unter anderem für die Müllentsorgung zuständig ist. Dass die Gemeinde auch für das Verschwinden von Zahids Sachen verantwortlich ist, belegt folgender Zettel, der an seinem Schlafplatz hinterlegt wurde – allerdings erst nach der Räumung:

In der Regel läuft die Räumung so ab: Die Polizei spürt die Biwaks der Obdachlosen auf und kontrolliert ihre Dokumente. Ein oder zwei Tage darauf kommt die SEAB vorbei, meistens mit einem kleinen, orangen Lastwagen. Ist gerade niemand zugegen, erfolgt die Räumung. Dann geht alles sehr schnell. Die Besitztümer werden in den Lastwagen geschmissen, der daraufhin vollbeladen wieder abfährt. Nur Dokumente, falls solche ausnahmsweise aufgefunden werden, bleiben verschont und werden bei der zuständigen Fundstelle abgegeben. Die ahnungslosen Besitzer finden bei ihrer Rückkehr einen leergeräumten Platz. Oft dauert es Tage, bis sie wieder an eine Decke kommen. Denn Caritas und Freiwillige können gar nicht so schnell Nachschub leisten, wie die Sachen wieder verschwinden. Unter diesen Umständen leisten die freiwilligen Helfer eine regelrechte Sisyphos-Arbeit.

Eine davon ist Karin Cirimbelli, die als Freiwillige für „SOS Bozen“ arbeitet. Die Immobilienmaklerin und Mutter geht jeden Tag aufs Neue die Herausforderung an, zeitlich alles unter einen Hut zu bekommen. Nach unserem Treffen verabschiedet sie sich eilig, denn sie muss noch fürs Mittagessen kochen. Wir treffen uns im „New Kurdistan“, einer Bar am Bahnhofspark, die hauptsächlich von Asylbewerbern und Migranten besucht wird. Für die neuangekommenen Menschen ist Cirimbelli eine Anlaufstelle für alle möglichen Fragen und Probleme, die sie alleine nicht lösen können. Meistens dreht es sich um Schwierigkeiten mit der italienischen Bürokratie.

Mit am Tisch sitzen zwei Asylbewerber aus Afrika. Sie empfangen mich mit einem Lächeln und kräftigem Händedruck. Da ihr Italienisch eher spärlich ist, spricht Cirimbelli für sie. Einer von ihnen hat ebenfalls vor kurzem Besuch der SEAB bekommen und seine Habseligkeiten verloren. Der Vorfall verlief nach dem üblichen Muster. Zuerst kam die Polizei, zwei Tage darauf die SEAB.

„Ab dem Moment, an dem der Normalbürger heizen darf, sollte eigentlich auch die Emergenza Freddo öffnen.“

Die Gründe, warum viele Asylbewerber kein Obdach haben, sind vielfältig. Einem Großteil von ihnen geht es wie Zahid. Sie haben in Südtirol zwar einen Antrag auf Bleiberecht gestellt, es gibt in den Unterkünften aber schlicht nicht genügend Platz für sie. Auf der Warteliste stehen derzeit um die 160 Menschen, wobei aber längst nicht jeder davon seine Wartezeit innerhalb von Südtirol zubringt. Andere hingegen erhielten einen negativen Asylbescheid, wiederum andere fanden bereits einen Platz in einem Aufnahmezentrum, haben dieses aber freiwillig oder unfreiwillig verlassen. Schließlich gibt es jene, die gerade erst angekommen sind und noch gar keinen Antrag stellen konnten oder die Italien so schnell wie möglich wieder verlassen wollen, um ein anderes europäisches Land weiter im Norden zu erreichen.

Die Lage ist also komplex. Wie könnte eine Lösung aussehen? Für Cirimbelli ist die Antwort klar. Die Bürokratie der Aufnahmezentren ließe sich schnell umgehen, wenn für alle Obdachlosen bereits jetzt die Räumlichkeiten der „Emergenza Freddo“ geöffnet würden. Die 100 Plätze, die man dadurch im Winter zur Verfügung stellt, würden zwar nicht gänzlich ausreichen und man müsste sich nach neuen Räumen umsehen, doch die Lage wäre dadurch schon deutlich entspannter. „Ab dem Moment, an dem der Normalbürger heizen darf, sollte eigentlich auch die Emergenza Freddo öffnen“, bringt Cirimbelli ihr Anliegen auf den Punkt. Doch so wie es jetzt aussieht, müssen Obdachlose noch mindestens bis November auf der Straße bleiben.

Karin Cirimbelli von “SOS Bozen”

Die Strategie der Politik: „Nicht anlocken“

Mit den Vorwürfen konfrontiert, rechtfertigt Inspektor Raoul Andolfo das Vorgehen der Stadtpolizei: Ja, die Räumungen würden auf organisierte und geplante Art und Weise durchgeführt, doch es werde ausschließlich Müll weggeräumt. Als Müll wird dabei „jeglicher Gegenstand, der unbeaufsichtigt aufgefunden wird” definiert.

„Wir kommen lediglich unserer Aufgabe nach, etwas gegen hygienische Missstände innerhalb der Stadt zu unternehmen“, bekräftigt Andolfo. Aussagen von Betroffenen, dass Stadtpolizei und SEAB nicht nur in Abwesenheit der Besitzer sämtliche unbeaufsichtigte Gegenstände wegräumen, sondern auch in deren Anwesenheit oder nachdem man sie zuerst vertrieben hätten, dementiert er.

Und wer gibt die Anordnung zu den Räumungsaktionen? „Die Polizei handelt in jeder Aktion gemäß des Bürgermeisterbeschlusses, der das Biwakieren in der Stadt Bozen verbietet“, erklärt Inspektor Andolfo. Ein Beschluss also, der theoretisch die Obdachlosigkeit per se verbietet, denn irgendwo müssen die Obdachlosen ja ein Lager aufschlagen. Doch mit solchen Einwänden müsse man sich an höhere Stelle wenden, lautet Andolfos Replik: „Die Stadtpolizei führt nur Anordnungen aus.” Zum Schluss versichert der Inspektor noch einmal, dass nur Müll weggeräumt werde und manchmal sogar der Verein „Volontarius“ bei den Räumungen mit dabei sei, um wiederverwertbare Gegenstände einzubehalten.

In der Regel ist das aber nicht der Fall, so wie bei Zahids Habseligkeiten. Seine Decken wurden als Müll entsorgt. Zahids Fall unterscheidet sich von anderen allerdings noch durch einen besonderen Umstand: Er ist minderjährig. Demnach dürfte er gar nicht auf der Straße wohnen. Der Staat ist verpflichtet, Minderjährigen eine Unterkunft zu garantieren und sie vor der Obdachlosigkeit zu schützen.

Dass Zahid nicht bereits zum Zeitpunkt seines Asylantrages einer Aufnahmestruktur zugewiesen wurde, ist der Tatsache zuzurechnen, dass er damals kein Dokument dabei hatte, um seine Minderjährigkeit zu belegen. Das hat sich inzwischen geändert. Seine Familie hat ihm sein Geburtszertifikat geschickt. Diese Woche hat Zahid wieder einen Termin bei der Caritas. Mit dem Zertifikat sollte er dann endlich einen Platz bekommen. Dass er so lange warten musste, ist merkwürdig, wenn man bedenkt, dass die Stadtpolizei erst vor wenigen Tagen unter der A22 die Dokumente der Asylbewerber kontrolliert hatte. Das war an jenem Tag, an dem sie auch – mit einiger Verspätung – den Warnzettel hinterließ, dass unbeaufsichtigte Gegenstände entfernt werden. Zahid zeigte den Beamten seine Dokumente. Dass er minderjährig war, übersah man dabei einfach, entweder aus Versehen oder willentlich.

„Warum stellt die Verwaltung keinen Raum zur Verfügung, wo die Obdachlosen tagsüber ihre Decken abgeben können, da sie sie ja nicht ständig mit sich herumschleppen können? Warum nimmt man sie ihnen stattdessen weg?“

Für Freiwillige wie Karin Cirimbelli ist inzwischen klar, dass die Stadtverwaltung eine bestimmte Strategie verfolgt. Damit würde man alles daran setzen, es den Asylbewerbern so schwer wie möglich zu machen: „Dadurch will man erreichen, dass die Menschen in eine andere Stadt ziehen. Landesrätin Stocker erklärte es ja selbst: Bozen soll nicht anlocken“, erinnert sich Cirimbelli.

Offiziell wollen Stadtpolizei und SEAB durch das Räumen der Biwaks lediglich das Stadtgebiet säubern und unhygienische Zustände verhindern; zudem sollen herumliegende Decken und Kleider nicht den allseits gefürchteten Anschein von „degrado“, also von Verfall, erwecken. „Wenn das der Grund für die Räumungen ist, warum stellt die Verwaltung dann keinen Raum zur Verfügung, wo die Obdachlosen tagsüber ihre Decken abgeben können, da sie sie ja nicht ständig mit sich herumschleppen können? Warum nimmt man sie ihnen stattdessen weg?“ fragt Cirimbelli. Das Problem der unansehnlichen Biwaks wäre dadurch gelöst, ist sie sich sicher.

Der kleine, orange Lastwagen der SEAB bei einer Räumung (Bild aufgenommen von einem Flüchtling)

Die Strategie, es den Menschen so schwer wie möglich zu machen, damit sie die Stadt verlassen, hat nicht nur die Gemeindepolitik übernommen. Auch bei der Quästur ist das gängige Praxis, weiß Cirimbelli. Sie assistiert Asylbewerbern regelmäßig bei ihren Anfragen auf Bleiberecht. Wegen mangelnder Kenntnisse der Sprache oder der Gesetzeslage sind die Bewerber oft nicht in der Lage, ihre Rechte geltend zu machen. Die Quästur nutzt das aus, bezeugt die freiwillige Helferin. Man versuche dort, hart zu sein und das Bleiberecht möglichst selten zu verlängern. Der Grund: Man fürchtet, zu großzügig zu sein. Wenn sich nämlich herumspräche, dass man in der Bozner Quästur kulant ist, würde das Menschen aus anderen Städten anlocken, deren Quästuren weniger nachgiebig sind. So wolle jede Quästur in Italien möglichst hart mit den Asylanten umgehen. Es ergibt sich ein menschenverachtender „race to the bottom“.

Von all dem weiß Zahid noch nichts. Nach einem Jahr und acht Monaten auf der Reise kam er Anfang September endlich in Italien, seinem Zielland, an. Vielleicht klingt sein Optimismus deshalb so unverwüstlich. Er weiß zwar, dass ihm nach der geographischen noch eine bürokratische Odyssee bevorsteht. Dennoch ist er überzeugt, bald die nötigen Papiere zu bekommen, regulär arbeiten und seine Familie erhalten zu können. Der nächste Schritt dahin ist die Aufnahme in eine Unterkunft. Das sollte in dieser Woche endlich klappen. Zahid hat ja ohnehin schon Glück, dass er jetzt in Italien angekommen ist und nicht erst im Dezember. Denn da hat er Geburtstag – und dann hätte er sich nicht einmal mehr auf die Rechte der unbegleiteten Minderjährigen berufen können.

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