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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 13.11.2020
MeinungKommentar zur Notbetreuung

Sind Sie systemrelevant?

Unserer Autorin Barbara Plagg wird häufig vorgehalten, ihre Beiträge seien zu lang. „Ich kann auch anders“, sagt sie und schreibt (kurz) über das Unwort des Jahres: Systemrelevanz.
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Und, haben Sie Ihren Beruf in der Liste der systemrelevanten Berufe gefunden, oder mussten Sie in der Kita beschämt ein Kreuzchen unter „Mami ist nicht systemrelevant“ setzen? Ich bin jedenfalls nicht systemrelevant, weil Wissenschaft ist im November 2020 erstens nicht mehr relevant und zweitens nichts Besonderes mehr — das bisschen Statistik kann nach zehn Monaten des täglichen Inzidenz- und Prävalenzrechnens inzwischen ja wirklich jede.

Andere wiederum, wie zum Beispiel Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen, wären zwar theoretisch relevant, sind es aber praktisch nur, wenn sie beim Ausüben ihrer Tätigkeit „Präsenz“ zeigen — ansonsten haben auch deren Kinder kein Recht auf Notbetreuung. Nun bringt es das Verrichten der meisten Tätigkeiten ja so mit sich, dass man dabei präsent sein muss, denn es tut sich der Mensch bekanntlich schwer, sein Brot zu backen, seine Mails zu verschicken oder seine Zähne zu putzen ohne die eigene Anwesenheit. Im irdischen Dilemma des Daseins ist es deswegen relativ egal, ob man vor fünfzehn Kindern oder einem Bildschirm seine Unterrichtsstunde hält — dabeisein muss man trotzdem.

Aber in diesem kafkaesken Katastrophenjahr ist auch das mit der Präsenz nicht mehr so, wie es immer war: Präsent ist man nur noch am Arbeitsplatz. Wenn man hingegen dieselbe Arbeit von zuhause aus macht, muss das auch ganz ohne die eigene Anwesenheit klappen. Da sitzen seit Monaten ganze Armeen von Lehrerinnen vor den Bildschirmen und bringen den Kindern (die vielleicht auch nicht präsent sind) Deutsch und Physik bei, da leiten Managerinnen ihre Geschäfte, da schreiben Journalistinnen Artikel, da planen Architektinnen Häuser von zuhause aus, ganz ohne die eigene Anwesenheit: Die findige Arbeitnehmerin von heute stopft mit präsenzlosem Multitasking die Löcher der vielen kleinen Fehler, die zusammen diese große Katastrophe ergeben und setzt ein Hologramm vor’s Zoom-Meeting, während sie derweil im Zimmer nebenan das Schulkind homeschooled, das Kitakind homefördert und die Knödel kocht. Wer Smartworking richtig kann, kann’s ganz ohne das eigene (oft so unbequeme) Dabeisein!

Die Kategorien „systemrelevant“ und „nicht-systemrelevant“ werden ab Januar 2021 bei Tinder eingeführt.

In diesem Sinne: Wer sich im Jahr 2020 selbst sucht und nicht fündig wird, ist entweder schlicht nicht relevant genug oder macht ganz im Sinne des Zeitgeistes („Präsenz ist unhygienisch und überbewertet“) einiges vorbildlich richtig. Man würde denken, die Menschen wären besser vorbereitet auf Katastrophen, die sie selbst verursacht haben, aber nun ja, spätestens seit der zweiten Welle wissen wir, dass wir kopflos von Lockdown zu Lockdown stolpern und währenddessen keine Hand mehr freihaben, weil immer, wenn wir irgendwo (in Präsenz oder nicht) ein Loch (relevant oder nicht) gestopft haben, blöderweise ein neues aufbricht.

Da nur noch Kinder systemrelevanter Eltern in den Genuss der Bildung kommen, die ihnen zustünde, kann man dem Spross derweil nur raten: Augen auf bei der Berufswahl! Entscheiden kann man in der postpandemischen Welt zwischen den drei Kategorien a) systemrelevant und unterbezahlt (Krankenpflegerin, Kindergärtnerin, Kassiererin), b) irrelevant und überbezahlt (Profifussballer, Hedgefondmanager, Politiker) und c) irrelevant und unterbezahlt (Künstlerin, Musikerin, Schauspielerin)*. Damit man sowohl in Pandemie, als auch in Nicht-Pandemiezeiten die Miete bezahlen kann, heiratet man am besten kategorienübergreifend.

Die neuen Kategorien „systemrelevant“ und „nicht-systemrelevant“ werden übrigens ab Januar 2021 bei Tinder eingeführt und man kann dann nur noch in der jeweiligen anderen Kategorie wischen und fischen, damit man sich präventivfinanziell richtig verliebt, um die Staatskasse in Krisensituationen mit seiner unzureichenden Partnerwahl nicht zusätzlich zu belasten.

Die Frage der Systemrelevanz richtig stellen: Ist dieses System für uns noch relevant?

Ich schreibe diese Zeilen allerdings ohne selbst relevant oder präsent zu sein, deswegen brauchen Sie mir nichts zu glauben — es ist möglicherweise alles erstens nicht relevant und zweitens vielleicht gar nicht da. Weil jedoch auch die Politiker selbst in der Liste der systemrelevanten Berufe nicht aufscheinen, stellen sich seit Mittwoch die renommiertesten Philosoph*innen und Rechtswissenschaftler*innen dieses Landes nun die Frage, ob die von nicht-systemrelevanten Politiker*innen erlassenen Dekrete überhaupt systemrelevante Gültigkeit haben.

Eine brisante Diskussion, aber leider nur mit begrenzter Validität, denn — Sie ahnen es schon — auch Rechtswissenschaftler*innen und Philosoph*innen sind nicht systemrelevant und vermutlich auch gar nicht präsent. Ja, 2020 ist schon ein außergewöhnliches Jahr. Was ich aber eigentlich sagen wollte: Wir schaffen das schon. Mit Hygiene und Humor, mit Solidarität und Disziplin stopfen wir die Löcher im schlecht vorbereiteten System, ohne dass ständig neue aufbrechen. Und Sie sind übrigens relevant, denn ohne Sie wären da noch mehr Löcher. Und Ihre Kinder, die sich Erbsen in die Nase schieben, ihre Schuhe nicht alleine knüpfen können und auch sonst ehrlicherweise keinen nennenswerten Beitrag im Haushalt und für die Gesellschaft zu leisten scheinen, sind es auch.

Und wenn wir dann mal wieder den Kopf freier haben, weil es die Krankenhausbetten auch wieder sind, dann stellen wir uns alle gemeinsam nochmal die Frage der Systemrelevanz. Und dabei ist die zentrale Frage dann natürlich nicht, ob wir für das System relevant sind, sondern ob dieses System der Nicht-Wertschätzung von Care-Tätigkeiten und kapitalistischen Ressourcenverschleuderung, das uns überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hat, für uns noch relevant ist.

* Kategorie a): vorwiegend weiblich; Kategorie b) vorwiegend männlich; Kategorie c): gemischt. Das Gendern erfolgte dementsprechend, und da vor allem Frauen unter Smartworking und der Zusatzbelastung Homeschooling leiden, wird ansonsten das generische Femininum verwendet.

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