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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 26.03.2021
MeinungKommentar zum Bildungssystem

Schule fürs Leben

Es gäbe zahlreiche Methoden und Denkansätze, die Menschen helfen, mit Krisen und schwierigen Gefühlen umzugehen. Warum wird fast nichts davon in der Schule gelernt?
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Es ist immer derselbe Vorwurf. Man lernt in der Schule nichts Nützliches. Jedenfalls nichts, was einen aufs echte Leben vorbereitet. Der Vorwurf ist wahrscheinlich so alt wie die Schule selbst und wer ihn begründete, brachte üblicherweise Argumente ohne besondere Schlagkraft vor.

Was bei der Kritik so gut wie nie fehlt, ist der Verweis auf die Hauptsätze der Thermodynamik. Auf den lateinischen Ablativ. Oder wahlweise auf das Versmaß in Klopstocks Oden. Alles Dinge, die wir an endlosen Nachmittagen im Heim, am Esstisch der Eltern oder in der überbezahlten Nachhilfe mühsam ins Langzeitgedächtnis gepfercht haben, nach dem Test aber in den hintersten Ecken der linken Gehirnhälfte wieder verstauben ließen. „Ist uns dieses Wissen nach der Matura jemals wieder zugutegekommen?“ lautet die Anklage. Ausgenommen von der Frage sind natürlich die seltenen Fälle, in denen jemand Physiker, Altphilologe oder Germanist wurde.

Besonders für mich als angehenden Lehrer hat der Vorwurf auch etwas Persönliches: Wirst du es einmal besser machen? Wird man bei dir etwas Brauchbares lernen? Ich frage dann gerne zurück: Was hättest du gerne gelernt?

Wenn mir dann, wie so oft, vorgeschlagen wird, Halbwüchsigen das korrekte Ausfüllen einer Steuererklärung nahezubringen, unternehme ich zur Bewahrung der Freundschaft einen abrupten Gesprächsthemenwechsel. Lieber ein abgeklärter Altlehrer im Elfenbeinturm als eine bodenständiger Praktiker für künftige Steuerberater.

Vor allem in letzter Zeit hörte ich in meinem Umfeld aber reflektierte Antworten, Überlegungen, die sich nach einem Jahr Corona um existenziellere Themen drehten. Plötzlich fragten sich viele Menschen: Warum habe ich eigentlich nie gelernt, mit Einsamkeit umzugehen? Hat die Panik, die das Virus verbreitete, vielleicht auch etwas mit unserem angespannten Verhältnis zum Tod zu tun? Was will ich in meinem Leben – und wie kann ich herausfinden, ob es das Richtige ist?

Emotionale Bildung

Es muss nicht gleich eine Pandemie sein, um zu zeigen, dass uns im Umgang mit unseren Gefühlen erstaunlich wenig Hilfsmittel an die Hand gegeben wurden. Man denke an die kleinen Ärgernisse im Alltag. Ein Beispiel: Ihr Partner zeigt sich zunehmend genervt, dass Sie auch am Feierabend wieder mal nur von den unfreundlichen, arroganten Kollegen am Arbeitsplatz reden: „Hast du eigentlich auch mal andere Themen?“, schneidet er Ihnen barsch das Wort ab. Aber Moment, wäre es nicht die Aufgabe eines Partners, Sie zu unterstützen? Jetzt fühlen Sie sich gleich doppelt im Stich gelassen, am Arbeitsplatz und zuhause in der Beziehung, die ganze Welt gegen Sie.

Mit den Grundlagen der “gewaltfreien Kommunikation” im Hinterkopf würden sie jetzt darauf achten, nicht aus den Gefühlen heraus zu sprechen, sondern über die Gefühle. Ohne in einen vorwurfsvollen Ton zu rutschen, würden Sie Ihrem Partner erklären, dass Sie das genervte Abwinken als persönliche Abweisung und kränkendes Nicht-ernst-genommen-werden empfunden haben. Und der Partner würde über die Wirkung seiner Worte überrascht sein und Ihnen gleich versichern, dass das gar nicht seine Absicht war, er aber selbst bereits einen schwierigen Tag hinter sich hatte und allein aus diesem Grund nicht mehr über Arbeitsthemen sprechen will.

Aber so läuft es selten. Wenn sich ein Mensch vom andern gekränkt fühlt, sind Gefühle meistens nicht Gegenstand der darauffolgenden Reaktion, sondern ihr Antreiber und Anführer. Und Gefühle pfeifen in solchen Momenten immer zum Gegenangriff – oder zum totalen Rückzug. Was sich folglich entweder in einem lauten Streit mit weiteren gegenseitigen Kränkungen und Beschuldigungen entlädt oder in einem unauffälligen Schmollen endet, das nur auf den ersten Blick harmlos wirkt.

Nur ein reflektiertes Leben ist ein lebenswertes Leben.

Ein wenig Hintergrundwissen über die Dynamik solcher Emotionen und der Punkte, wo wir aufgrund von individuellen Erfahrungen besonders verwundbar sind, könnte solche konfliktgeladenen Situationen entschärfen. Wirklich kompliziert wird es aber, wenn die großen Krisen kommen. Angststörungen. Depressionen. Bipolarität. Man muss gar nicht gleich das ganze Register der klinischen Krankheitsbilder ziehen. Das Leben ist auch für Nicht-Neurotiker eine Reihe von Verlusten und jeder einzelne kann einem den Boden unter den Füßen wegziehen.

Sofern man nicht religiös oder einer starren Ideologie verpflichtet ist, ist der Lebenssinn eine Fiktion, die immer wieder neu erschaffen und an veränderte Umstände angepasst werden muss, um sich selbst möglichst unbeschadet durchs Leben zu tragen – damit alles gleichbleibt, muss sich ständig alles ändern. Dabei ist jede Anpassung der eigenen Sinnkoordinaten das Ergebnis langer Reflexionen und jener Krisen, die durch den nötigen Leidensdruck das Reflektieren erst angestoßen haben.

So mühsam und schmerzvoll diese Prozesse sein können, nur ein reflektiertes Leben ist ein lebenswertes Leben, war der Philosoph Sokrates überzeugt. Die Frage ist nur: Haben wir genug Werkzeuge, um diese Reflexion anzugehen, die Krisen zu bewältigen? Gibt es Techniken und Wege, mit der eigenen Brüchigkeit und der Unerklärlichkeit des Daseins umzugehen?

Spätestens, wenn die bürgerlichen Kompasssysteme, die bislang verlässliche Orientierung boten, ein Job, eine Familie, ein vorgefertigtes Lebensmuster, vor dem Chaos eines größeren Magnetfelds versagen, merken wir vielleicht, dass wir unvorbereitet dastehen. Wir stellen fest, dass wir im Biologieunterricht sehr viel Interessantes über unsere Darmflora und die einzelnen Bestandteile der menschlichen DNA gelernt haben, aber sehr wenig bis gar nichts über Dinge wie psychische Deprivation, kognitive Verzerrungen oder die Veränderung von Gehirnstrukturen durch Meditation. Warum eigentlich?

Was soll Schule leisten?

Am guten Willen mangelt es in den Schuldirektionen und Bildungsministerien nicht. Seit der Jahrtausendwende haben die Bildungssysteme im deutschsprachigen Raum die Kritik, die aktuelle Schule sei lebensfern und bereite junge Menschen nicht ausreichend auf konkrete Herausforderungen vor, sogar sehr ernstgenommen. Doch leider haben Politiker und Pädagogen dabei hauptsächlich auf die gehört, die mit ihrer falsch ausgefüllten Steuererklärung herumfuchtelten.

Die Schule lebensnäher und handlungsorientiert zu gestalten, das bedeutet also in erster Linie, die Schüler und Schülerinnen für den Arbeitsmarkt 4.0 fit zu machen. In Fachkreisen spricht man von „Kompetenzorientierung“: Nicht altmodisches Wissen, das sich heute sowieso jeder ergooglen kann und das morgen schon wieder überholt ist, sondern Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen die Lernenden sich aneignen. Aus ihnen sollen anpassungsfähige und selbstständige Performer werden, die mit einem ständig sich weiterentwickelnden Arbeitsmarkt mühelos mithalten können.

Wenn es uns schlecht geht, ist das nach der materialistischen Weltauffassung ein rein physiologisches Problem.

Die Tatsache, dass psychologisches und philosophisches Grundwissen in der kompetenzorientierten Lernkultur weiterhin eine Randexistenz führt und allenfalls in humanistisch ausgerichteten Schulen eine (eher mit Tradition begründete) Rolle spielt, lässt sich kaum erklären, wenn nicht durch die unscheinbare, doch überwältigende Vorherrschaft des materialistischen Monismus. Der Begriff mag sperrig klingen, er beschreibt aber eine Position, die sich in den letzten Jahren zu einem philosophischen Welthit entwickelt hat und heute unbemerkt auch den meisten politischen Entscheidungen zugrunde liegt, von Bildungsfragen bis hin zum Pandemie-Management. Es handelt sich um die bewusste oder unbewusste Annahme, dass die gesamte Wirklichkeit aus rein materiellen und physikalisch erklärbaren Phänomenen besteht.

In dieser Lesart muss das Denken mit dem Gehirn gleichgesetzt werden, Gefühle mit hormonellen Zuständen und Moral mit einem willkürlichen Regelwerk, das sich die Menschen aus rein verwaltungstechnischen Gründen zurechtgelegt haben. Als „Neurozentrismus“ bezeichnet der Philosoph Markus Gabriel diese Vorstellung und nennt sie einen der größten Denkfehler der Menschheitsgeschichte. Aus einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus, so merkt Gabriel an, darf man zu metaphysischen Fragen (z.B. Gibt es einen Gott? Gibt es eine Seele? Was kommt nach dem Tod?) keine sicheren Aussagen machen, weil sie nicht falsifizierbar wären, das heißt, dass ihnen die empirische und logische Grundlage fehlt. Aber genau das tut der materialistische Monismus fälschlicherweise. Er gibt auf metaphysische Fragen Antworten und sagt: Es gibt keinen Gott, keine Seele, kein Leben nach dem Tod.

Das einzige, was einer materialistischen Weltauffassung zufolge existiert, ist Materie. Und wenn es uns psychisch schlecht geht, kann das folglich, wie Zahnschmerzen, nur eine rein physiologische Angelegenheit sein, irgendeine Drüse, die falsch funktioniert, irgendein Hirnschaden, jedenfalls ein Problem, dem bestenfalls mit Medizin beizukommen ist.

Jugendliche interessieren sich für schwierige Fragen

Es verwundert nicht, dass Schulfächer wie Psychologie oder Philosophie in einem solchen Weltbild eine sehr marginale Existenzberechtigung haben. Problematisch ist es trotzdem. Und weil er diesen Missstand als so absurd empfand, gründete der Bestseller-Autor und Philosoph Alain de Botton 2008 kurzerhand sein eigenes Bildungsprogramm für Erwachsene. Es heißt passenderweise „School of Life“ und bietet neben einführenden Erklärvideos auf Youtube auch Seminare, Bücher und Fortbildungen. De Botton nennt das Konzept dahinter “emotionale Bildung” – eine fahrlässige Lücke unseres Bildungsystems. Dass diese Lücke tatsächlich besteht, beweist der Erfolg des Unternehmens: Der Youtube-Kanal von “School of Life” zählt aktuell über 6.5 Millionen Abonnenten.

Als angehender Lehrer (Fächer Deutsch und Geschichte) finde ich es schade, dass die Vermittlung von philosophischem und psychologischem Grundwissen privaten Initiativen überlassen wird. Was spricht dagegen, dass bereits der Schulunterricht uns mit diesen Kompetenzen ausstattet? Und weil es realistischerweise auch ein ökonomisches Argument braucht, um ein Anliegen politisch attraktiv zu machen: Wie viel Geld würden der Staat und die Arbeitgeber einsparen, wenn die Menschen bewusster und konstruktiver mit ihren Gefühlslagen und Lebenskrisen umgehen könnten? Wie viele Burnouts, Zusammenbrüche und kostspielige Psychiatrie-Aufenthalte ließen sich dadurch vermeiden? Nur ein großer Player würde verlieren: Pharma.

Einer meinte, er hätte soeben die interessantesten und wichtigsten Stunden seiner Schulkarriere erlebt.

Der Einwand, an den Sie jetzt wahrscheinlich denken: Jugendliche haben für solche Dinge doch gar keinen Kopf. Das sind unangenehme Themen, was interessieren die einen 17-jährigen Pubertierenden? Woher diese Vorstellung von Jugend kommt, weiß ich nicht, aber ich kann gestehen, dass ich genau denselben Zweifel hatte, als ich im Jahr 2016 als 22-jähriger Vertretungslehrer fürs Fach Philosophie drei Unterrichtsstunden zum Thema „Depression“ vorbereitete. Es war erst ein halbes Jahrzehnt her, dass ich selbst ein pickelüberzogener Gymnasiast war, unglücklich verliebt, metaphysisch obdachlos und am Sinn des eigenen Daseins verzweifelnd. In diesem Alter hatte ich nach philosophischen Erklärungsversuchen, alternativen Lebensmodellen und düsteren Ich-Romanen regelrecht gehungert.

Und doch konnte ich mir jetzt kaum vorstellen, dass diese zwanzig Jugendlichen, die mich zum Stundenbeginn gelangweilt bis erwartungsvoll anstarrten, sich für so unheitere Themen wie Depression begeistern würden. Trotzdem, dieser Exkurs war wichtig, auch wenn er nicht im Lehrplan stand. Obwohl es nicht zu hoffen war, konnte das Thema für den einen oder andern ja noch relevant werden. Wir befassten uns mit einem Film über den US-amerikanischen Schriftsteller David Foster Wallace, der sich 2008 das Leben nahm. Anschließend ging es um mögliche Ursachen für Depression, verzerrte Wahrnehmungen, unsere Macht über eigene Einstellungen, traumatische Kindheitserfahrungen, psychoanalytische Grundlagen.

Ich habe während meiner acht Monate als Philosophie-Lehrer selten eine ungeteilte Aufmerksamkeit und ein Engagement erlebt, wie in diesen drei Stunden. Am Ende der letzten Stunde kommen mehrere Schüler zum Pult, um weitere Fragen zu stellen. Einer meint, er hätte soeben die interessantesten und wichtigsten Stunden seiner Schulkarriere erlebt. Andere fragen, ob wir nicht ein paar weitere Stunden demselben Thema widmen können. “Wäre das machbar, Herr Lehrer?” Zur Sicherheit werfe ich einen Blick in den Lehrplan und stelle fest, dass bis zum Jahresende noch viel Pflichtstoff ansteht – von Luther zu den deutschen Idealisten – und als gewissenhafte Lehrperson muss ich antworten: „Das geht leider nicht mehr, nächste Woche ist Hegel dran.“

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