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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 24.11.2015
MeinungKommentar zur Sicherheit in Europa

Keine Toleranz der Intoleranz

In Brüssel erlebte man am Wochenende Kriegsstimmung. Ein Bericht aus der Stadt im Ausnahmezustand, der die Frage aufwirft: Wie weit darf Toleranz gehen?
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Es war kalt, der Wind jagte Schneeregen durch die Luft, die Straßen waren leergefegt, und dazu wurde die Terrorwarnstufe auf 4 angehoben. Das bedeutet „eine ernste, unmittelbare Bedrohung“. Bald wurde mir klar, dass ich mir nicht unbedingt den besten Tag ausgesucht hatte, um Belgiens Hauptstadt Brüssel zu besichtigen. Dennoch bin ich letzten Freitag hingefahren, da die Reise schon organisiert war. Der eigentliche Grund des Trips, das jährliche Saint-Verhaegen-Festival, bei dem tausende Studenten durch die Straßen von Brüssel ziehen, wurde bereits einige Tage vorher abgesagt.

Über die folgenden Ereignisse könnte man schon darum schreiben, weil eine derartige Lage in einer europäischen Hauptstadt etwas Unerhörtes hat. Bemerkenswerter aber ist, dass die Situation in Brüssel exemplarisch für die aktuellen Entwicklungen in ganz Europa steht, vielleicht besonders auch für die Entwicklungen in Südtirol, jedenfalls in Anbetracht der Festnahmen in Meran.

Das Molenbeek-Viertel in Brüssel: „Geh da nicht hin! Da würde ich keinen Fuß reinsetzen.”

Gleich nach meiner Ankunft in Brüssel stellen sich schon die ersten Schwierigkeiten ein. Die Grand Place, der große Platz im Stadtzentrum, an dem ich einige Freunde aus Deutschland treffen soll, ist gänzlich abgesperrt: Sicherheitskontrolle. Ansonsten kann man am Freitag aber immerhin noch Orte wie das EU-Parlament oder das Atomium, Brüssels Wahrzeichen, besichtigen. Auch die U-Bahnen fahren noch, obwohl die massive Militärpräsenz an den Eingängen bereits ahnen lässt, dass all diese Soldaten nicht zum Spaß hier stehen. Irgendetwas liegt da in der Luft, wovon die Bürger noch nichts Genaues wissen. Das Gefühl des Bedrohlichen wird stärker, die Straßen leeren sich. Auch das Heulen der Polizeisirenen, das inzwischen den Unterton der Stadt gibt, wird häufiger und intensiver, je später es wird.

Abends treffe ich David, einen alten Schulfreund, der in Brüssel gerade ein Praktikum beim EU- Parlament absolviert und bei dem ich übernachten darf. Als ich ihm erzähle, meine anderen Freunde hätten ihr Hostel am Rand des Molenbeek-Viertels, werde ich von entsetzten Blicken gemustert. „Geh da nicht hin“, sagt David, „da würde ich keinen Fuß reinsetzen!“ David schildert mir das Bild eines Ghettos, über das die Stadtverwaltung keine Kontrolle mehr hat. In der Tat stammen zwei der Paris-Terroristen gerade aus diesem Viertel. Auch der Terrorist, der hinter dem vereitelten Anschlag auf einen Thalys-Zug steckte, und jene, die 2004 das Attentat in Madrid verübten, standen mit Molenbeek in Verbindung. Schlechte Verwaltung, eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent und ein hoher Ausländeranteil haben dieses Viertel zu einer Brutstätte des Islamismus werden lassen.

„Als Europäer, der im Frieden aufgewachsen ist, erhält man erstmals eine Ahnung davon, was es bedeutet, nicht sicher zu sein; was es bedeuten könnte, sein Leben der Willkür eines unsichtbaren Feindes ausgesetzt zu wissen.”

Die Nacht auf Samstag verläuft angespannt, die Stimmung ist surreal. Zum Teil sieht man im Zentrum von Brüssel mehr Soldaten als Zivilisten. Immer wieder Sirenen, manchmal eine Militärtruppe, die hektisch an einem vorüber läuft. Dann, vor der alten Börse, rempelt ein schmalgebauter Mann – wahrscheinlich betrunken – plötzlich einen Soldaten an. Sogleich stürzen sich fünf Uniformierte auf ihn und halten ihn so lange zu Boden gedrückt, bis er sich nicht mehr regt. Daraufhin wird der Mann, der inzwischen ohnmächtig zu sein scheint, in einen Wagen der Ordnungskräfte geschleppt und abtransportiert. Als Europäer, der im Frieden aufgewachsen ist, erhält man erstmals eine Ahnung davon, was es bedeutet, nicht sicher zu sein; was es bedeuten könnte, sein Leben der Willkür eines unsichtbaren Feindes ausgesetzt zu wissen (wobei man hier zumindest im eigenen Haus immer noch vollkommen sicher ist). Man versteht nun auch besser, warum Hunderttausende Menschen aus Kriegsgebieten die Flucht nach Europa wagen.

Am nächsten Tag liegt Brüssel lahm, die U-Bahnen fahren nicht mehr, öffentliche Gebäude sind geschlossen, und der Bevölkerung wird bekanntgegeben, dass konkrete Hinweise darauf vorliegen, dass an verschiedenen Orten in der Stadt Anschläge geplant seien. Es wird empfohlen, in den eigenen Häusern zu bleiben. Angesichts dessen scheint die Anspannung der Sicherheitskräfte gut verständlich. Dennoch war das Abführen jenes betrunkenen Mannes ein Moment, in dem man sich fragen konnte, wer mehr zu fürchten ist: Die Terroristen oder das eigene Militär. Das sollten Europas Bürger im Auge behalten, wenn es darum geht, gewisse Rechte und Freiheiten für mehr Sicherheit aufzugeben. In Frankreich beispielsweise wurde der Ausnahmezustand, der üblicherweise nur zwölf Tage dauert, bereits auf drei Monate verlängert. Das ermöglicht unter anderem Versammlungsverbote und Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss.

Die Grenzen der Toleranz

Klar, sagt man: das alles muss jetzt sein, um im Kampf gegen die Terroristen effizienter vorgehen zu können. Aber musste es überhaupt so weit kommen? Oder wäre die Tatsache, dass sogar in Südtirol eine hochgefährliche Islamistenszene florieren konnte, ebenfalls vermeidbar gewesen? Um Attentate und demokratiefeindliche Ausnahmezustände in Zukunft zu verhindern, sollte man jetzt wohl überlegen, wie wir weiterhin mit unserem westlichen Wert der „Toleranz“ umgehen wollen. Was fällt noch unter Religions- und Meinungsfreiheit? Es scheint doch bezeichnend zu sein, wenn Mullah Krekar, jener Islamist, der auch hinter der Terrorzelle von Meran steckt, sagt: „Ihr wisst genau, dass ihr mir mit euren Gesetzen nichts anhaben könnt.“ Vielleicht sind diese Gesetze tatsächlich zu lax und sollten gegen den Islamismus und andere radikale Ideologien verschärft werden. Letztlich ist es gar nicht eine Frage der Toleranz an sich, sondern eine Frage, wem diese Toleranz gelten soll: dem Flüchtling, der seine zerbombte und perspektivlose Heimat verlassen musste, um hier eine sichere und lebenswerte Zukunft zu suchen, oder auch dem radikalen Islamisten, der seinerseits wenig mit Toleranz und Demokratie anzufangen weiß? Meinungsfreiheit und Toleranz müssen gewisse Grenzen kennen, um sich vor ihren Feinden, den verschiedenen Totalitarismen, zu schützen. Wenn man das anerkennt, dann ist es auch an der Zeit sich einzugestehen, dass ein Islamist, der die Scharia predigt und Ungläubige nicht als lebenswert betrachtet, in einer freien, demokratischen Gesellschaft nichts verloren hat.

„Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.” (Karl Popper)

In Anbetracht des historischen Beispiels, was mit der Weimarer Republik geschehen war, machte sich auch der Philosoph Karl Popper einige Gedanken dazu. Ihm zufolge führt uneingeschränkte Toleranz (auch gegenüber totalitären Ideologien) zur Aufhebung des Rechtsstaats und der Toleranz selbst. Popper kommt zum Schluss: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.” Das gilt dann für die Faschisten in der Weimarer Republik genauso wie für die Islamisten und andere Radikale in unseren Tagen.

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