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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 15.01.2019
MeinungKommentar zur Ungleichheit

Arm und früher tot

Menschen aus der untersten Einkommensschicht sterben zehn Jahre früher als jene aus der obersten. Selbst schuld? Ein Kommentar zur Schere zwischen Arm und Reich.
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Als Douglas Black 1980 seine Forschungsergebnisse den britischen Politikern auf den Tisch legte, hätten Thatchers Leute seine Arbeit am liebsten geschreddert. Der junge Neoliberalismus mit dem Ziel, öffentliche Ausgaben zu reduzieren, hatte wenig Sympathien für die Verlierer der Marktwirtschaft und konnte eines ganz sicher nicht brauchen: den wissenschaftlichen Beleg, dass die Armen Jahre vor den Reichen sterben. Black hatte mit seinen Forschern erstmals festgestellt, dass die unterste Einkommensschicht etwa zehn Jahre früher als die oberste stirbt. Ungünstig, wenn man möchte, dass die Leute an das neoliberale Ammenmärchen, dem „Trickle-down-Effekt“, glauben: Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut. Und zwar auch denen ganz unten, weil, es sickert ja durch. Stimmt natürlich nicht. Es trickled nichts down, wie inzwischen oft widerlegt wurde, die Reichen bleiben reich, die Armen arm und der Mittelstand wackelt irgendwo zwischen Prekariat und Gehtgradnochso dem Monatsende zu. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern auch ein bisschen tödlich: Weil die Reichen sind nebst reicher auch gesünder und die Unterschicht ist kränker – und eine ganze Dekade früher tot.

„Laut WHO ist nur 25 Prozent der Unterschiede in der Lebenserwartung genetisch erklärbar – die restlichen 75 Prozent sind praktisch die Summe unserer Lebensumstände.”

Grundsätzlich stimmt es schon: Die Menschen leben insgesamt immer länger. Aber eben nicht alle leben gleich viel länger. Statistisch gesehen stirbt die Putzfrau acht Jahre früher als der Politiker, dessen Boden sie wischt. Dem Mann aus der untersten Sozialschicht fehlen sogar ganze elf Jahre im Vergleich zu den Bestverdienenden am Stadtrand. Im Durchschnitt sind es also ganze 10 Jahre Leben, die die unterste Einkommensschicht von den obersten trennt. Das hat damit zu tun, dass der Mensch nicht einfach gesund ist, weil Gott oder Gene so wollen. Laut WHO ist nur 25 Prozent der Unterschiede in der Lebenserwartung genetisch erklärbar – die restlichen 75 Prozent sind praktisch die Summe unserer Lebensumstände: Was wir arbeiten, welche Bildung wir genossen haben, was auf den Tisch kommt, wie viele Freunde wir haben, wie gestresst wir sind, wie oft wir zum Arzt gehen und um den Block laufen etwa.

Das Robert-Koch-Institut hat es für Deutschland 2012 nochmal nachgewiesen, in Italien schaut man auch seit den 90er Jahren genauer hin und weiß: Wer prekär beschäftigt ist oder arbeitslos, ist häufiger krank und stirbt früher. Für Südtirol gilt das übrigens auch: Je höher die Einkommensschicht, desto besser wird die eigene Gesundheit bewertet. Wenn man nun als Kind in eine sozial schwache Familie geboren ist, hat man in den ersten Jahren ein 2,5-fach erhöhtes Sterberisiko und eine höhere Wahrscheinlichkeit, später an chronischen Erkrankungen zu leiden. Letztlich ist es eben nicht einfach Glück, ob man gesund bleibt oder nicht, sondern eine Frage der Möglichkeiten.

„Wer schauen muss, dass er in Schichtarbeit über die Woche kommt und seine Zigarettenpause braucht, um nicht schon mittwochs ins Fließband zu kippen, denkt kaum an seine Gefäße in zwanzig Jahren.”

Zig Studien haben aufgezeigt, dass in unteren Einkommensschichten ungesünderes Essen auf den Tisch kommt, mehr geraucht, weniger Sport gemacht und öfter zum Alkohol gegriffen wird. Und damit ebnet sich der Weg für jene Pathologien, an denen wir hierzulande am häufigsten chronisch leiden, bevor wir daran sterben: Herzkreislauf-Erkrankungen. Also selbst schuld? Edwina Currie, britische Gesundheitsministerin in den 80ern sagte dazu etwa, dass die Leute an „Dummheit und Kartoffelchips“ sterben. Dumm ist aber nur, dass ihr als Gesundheitsministerin nicht auffiel, dass die Leute so dumm gar nicht sind: Ein Raucher weiß in der Regel sehr wohl, dass rauchen nicht gesund ist. Und fast alle Menschen haben inzwischen mitbekommen, dass Obst und Gemüse der Schweinshaxe vorzuziehen ist. Dass sie trotzdem ungesund leben, hat aber eben viel mit der Einkommensschicht zu tun: Wer schauen muss, dass er in Schichtarbeit über die Woche kommt und seine Zigarettenpause braucht, um nicht schon mittwochs ins Fließband zu kippen, denkt kaum an seine Gefäße in zwanzig Jahren. Wer nicht viel verdient, greift außerdem eher zur Lidlwurst und zum raffinierten Zucker, als zu Chiasamen und biologischem Traubenkernextraxt. Und wer alleinerziehend und chronisch gestresst ist, packt seinen Kindern morgens eher eine Caprisonne, als einen selbstgemachten grünen Smoothie in die Schultaschen. Und ja, wer uninformiert ist, weil er aus einer unterprivilegierteren Schicht kommt und deshalb nicht studiert hat und sich auch keine kognitive Reserve für sein Senium zurechtlesen konnte, weiß vielleicht auch nicht, wie oxidativer Stress zustande kommt und was man dagegen tun kann.

„Die richtige Wahl kann nur der treffen, der überhaupt eine hat.”

Das Verhalten eines Menschen kann man nur im sozialen Kontext, in dem es entsteht, verstehen. Ärmere Menschen sind nicht grundsätzlich dümmer, sondern maximal weniger informiert. Und gezwungen, sich in ihrem Lebensstil an ihre Lebensrealitäten anzupassen. Denn die richtige Wahl kann nur der treffen, der überhaupt eine hat. Kinder mit Migrantionshintergrund haben beispielsweise ein doppelt so hohes Risiko in Verkehrsunfälle verwickelt zu werden, während sie spielen. Sie sind deswegen nicht dümmer oder ungeschickter: Aber öfter ohne Aufsicht sich selbst überlassen, weil die Eltern arbeiten müssen und wohnen auf so engem Raum, dass sie auf die Straßen zum Spielen gehen – und in den billigeren Wohngegenden ist Grünfläche wiederum statistisch gesehen seltener als in teureren Wohngegenden. Theoretisch ist es also beispielsweise für das kollektive Wohlbefinden nicht egal, ob man eine Grünfläche als Begegnungs- und Bewegungsstätte für die Bürger oder etwa als Touristenattraktion auslegt. Und ja, das gilt auch für Südtirols Kleinstädte, obwohl die so viel schönen Wald drumherum haben – denn Waldflächen und Stadtgrün stehen ungefähr so zueinander wie Eisackgewässer und öffentliches Schwimmbad: Sie erfüllen nicht denselben sozialen und physischen Zweck der Naherholung. Praktisch entscheiden über die Stadtgestaltung dann aber nicht die unterprivilegierten Kindergärterinnen und Köchinnen aus dem Plattenbau, sondern Menschen, die zehn Jahre mehr leben dürfen. Und die sie dann mit großer Wahrscheinlichkeit in ihrem Privatgarten verbringen.

Man kann also, wenn man will, genauer hinschauen und feststellen: Wo viel gestorben wird, spielt meist das Geld mit eine Rolle. Weil das Einkommen und der Sozialstatus entscheiden, wo jemand lebt – ob etwa drinnen genug Platz und kein Schimmel ist und draußen genug Bäume den Feinstaub wegfiltern und genügend sichere Freiräume sind. Außerdem entscheidet das liebe Geld, wie jemand lebt – Biorind und Kamutmehl, Wellness-Urlaub und Yoga, Familientherapie und private Zahnreinigung muss man sich erstmal leisten können. Wenn man denn überhaupt Zeit dafür hätte, zwischen den drei Teilzeitjobs, um die zwei Kinder durchzufüttern.

„Es ist eben nicht überzufällig häufig Pech, dass weniger gut Betuchte früher sterben – sondern die Summe aus den Konsequenzen der sozioökonomischen Lebensumstände.”

Aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit. Einer neueren Studie zufolge bemühen sich auch die Nicht-so-Reichen um einen gesunden Lebensstil. Nur, er greift eben nicht so gut. Ein Wissenschaftler formuliert das etwa so: Wenn jemand primär Ungesundem ausgesetzt ist, helfen Präventionsmaßnahmen nicht so viel. Wenn Präventionsmaßnahmen eh nicht helfen, hat man weniger Lust, sie umzusetzen. Warum auch? Wenn ich mit meinem bescheidenen Einkommen versuche, gesund zu essen, aber in der Arbeit auszehrendem körperlichen und psychischen Stress ausgesetzt bin, hilft das ganze gute Vollkorn nichts. Und psychischer und körperlicher Stress ist besonders dort zu finden, wo die Arbeitsverhältnisse prekär, die Arbeitsstunden lang, die physische Anstrengung groß und die Wertschätzung und Komplexität der Tätigkeit gering ist – also eher wieder am unteren Ende der Einkommensklasse.

So gesehen hatte Currie immerhin irgendwie recht gehabt: Reiche profitieren von ihrer Bildung, von der Zahl der Sozialkontakte und davon, dass ihre Arbeit körperlich weniger anstrengend ist. Auch das haben Wissenschaftler nachgewiesen. Außerdem sind die meisten „oberen“ Berufe quasi von Natur aus weniger riskant: Man fällt etwa als Verwaltungsbeamter im Landhaus siebenmal weniger oft vom Dach oder auf Bahngleise, als ein Dachdecker oder Bahnarbeiter. Anthropologen fanden raus, dass weniger privilegierte Menschen häufiger an Zufälligkeit und Pech in der Gesundheit glauben, eher pessimistisch sind und mehr Wert auf die Befriedigung aktueller Bedürfnisse legen. Nun, wen wundert’s. Nur, es ist eben nicht überzufällig häufig Pech, dass weniger gut Betuchte früher sterben – sondern die Summe aus den Konsequenzen der sozioökonomischen Lebensumstände.

Thatchers Leute haben Blacks Report übrigens nie publiziert. Man war gewitzt genug, nur so zu tun als ob und hat am letzten Montag im August 260 schäbig kopierte Exemplare auf den Markt gebracht. Inzwischen sind die von Black aufgedeckten gesundheitlichen Ungleichheiten in vielen Ländern zigfach repliziert worden und das ist traurig, weil das auch bedeutet, dass sie unverändert fortbestehen. Im August 1980 haben davon jedenfalls nur wenige etwas mitbekommen: Der letzte Montag im August war und ist in England ein Feiertag und die Briten sind am Meer. Zumindest die, die es sich leisten können. Der Rest ist entweder am Arbeiten – oder schon vor zehn Jahren gestorben.

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