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Veröffentlicht
am 26.09.2022
LeuteAuszug aus dem Buch von Paul Rösch

Alles Theater oder was?

Veröffentlicht
am 26.09.2022
Paul Rösch war für fünf Jahre Bürgermeister von Meran - als absoluter Politik-Neuling. In einem Buch stellt er sich nun kritischen Fragen. BARFUSS bringt einen Auszug und zwar das Kapitel „Politik und Wahrheit“.
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Der Politik wird ein schwieriges Verhältnis zur Wahrheit nachgesagt. Regelmäßige Skandale, Afären und Enthüllungen zeigen, dass die Politik mit der Wahrheit teilweise sogar auf Kriegsfuß steht. Welche Rolle spielt die Wahrheit im politischen Alltag? Kann man überhaupt davon ausgehen, dass in der Politik jemand die Wahrheit sagt – oder ist in Wirklichkeit alles nur Theater? Und wie bespielt man unter diesen Bedingungen die politische Bühne am besten? Die Fragen an Paul Rösch stellte Lukas Elsler.

Sagen Politikerinnen und Politiker wirklich so häufg die Unwahrheit, wie ihnen nachgesagt wird?
So allgemein formuliert würde ich sagen: Nein. Aber man muss sich überlegen, warum diese Meinung so verbreitet ist.

Warum?
Es ist das „politichese“, die Art zu reden in der Politik, die diesen Eindruck erweckt: mit vielen Worten und langen Reden wenig oder gar nichts zu sagen. Das fndet man quer durch die Bank und auf allen Ebenen. Nur nicht zu viel herausrücken, nur nicht zu viel exponieren. Im Zweifelsfall lieber nicht zu sehr ins Detail gehen.

Wie kommt das?
Es ist eine Folge des Drucks. Als Politiker – vor allem natürlich wenn man regiert – ist man tagtäglich mit einer Reihe von Konfikten konfrontiert: verschiedene Interessen und Anliegen, die nicht unter einen Hut zu bringen sind, unerfüllbare Wünsche und Forderungen, Kritik – man ist sozusagen ständig in der Schusslinie, muss praktisch jeden Tag öfentlich Position beziehen und häufg Nein sagen. Ich glaube, es ist nur menschlich, wenn Politikerinnen und Politiker diesem täglichen Druck ein Stück weit zu entkommen versuchen. Der Schutzmechanismus ist klar: Wenn man nicht zu viel sagt oder nichts Genaues, dann hat man fürs Erste seine Ruhe.

Möglichst unpräzise und allgemein, dann fühlen sich alle bestätigt und niemand kann einen hinterher festnageln?
Ja. Es entsteht eine ganze eigene Dynamik, die für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen ist. Stell dir vor, jedes Mal, wenn du in einer Sache klar Stellung beziehst, werden deine Aussagen öfentlich auseinandergenommen und kritisiert: Es muss ja nicht immer die gleiche Person oder Gruppe sein, irgendjemand fndet sich fast immer, der anderer Meinung ist als du. Es gibt nur ganz wenige Leute, denen es nichts ausmacht, wenn sie jeden Tag in den Medien in die Mangel genommen werden. Also verzichtest du lieber auf klare Worte, wo es nicht unbedingt notwendig ist, weil das Risiko besteht, dass du dafür angegrifen wirst.

Wer nie Position bezieht und immer nur im Ungefähren bleibt, erfüllt seine Aufgabe als Politikerin oder Politiker nicht.

Wenn wir Politikerinnen und Politiker unterstellen, sie würden nicht die Wahrheit sagen, liegt das also daran, dass wir in vage Aussagen mehr hineininterpretieren als gedacht – und die Politikerinnen und Politiker nehmen das billigend in Kauf, damit sie ihre Ruhe haben?
Ich denke zum Beispiel an Philipp Achammer, der kann das richtig gut. Bei der SAD-Afäre mit den abgehörten Telefongesprächen hat man das gesehen. Immer allgemein bleiben, nur nicht aus der Balance kommen. Auch bei anderen Konfikten innerhalb und außerhalb der SVP macht er das. Dabei merkt man im Grunde, dass es ihm eigentlich nicht gut geht und er sich unwohl fühlt.

Wenn man deiner Argumentation folgt, kann man es niemandem übel nehmen, wenn er oder sie so etwas macht, oder?
Es ist menschlich, doch das bedeutet nicht, dass ich es gut fnde. Man muss in der Politik nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Aber man muss wissen, wo die roten Linien sind. Wer nie Position bezieht und immer nur im Ungefähren bleibt, erfüllt seine Aufgabe als Politikerin oder Politiker nicht. Das ist die Gefahr, wenn diese Art zu reden zur Gewohnheit wird: Man übersieht den Punkt, an dem man klar und deutlich sein muss. Dafür muss nicht ein Krieg in der Ukraine ausbrechen – auch in wesentlich banaleren Fragen kann man nicht immer herumlavieren oder einfach das Thema wechseln. Dafür braucht es Geradlinigkeit. Mir fällt zum Beispiel der Rücktritt des ehemaligen Bozner Vizebürgermeisters Christoph Baur ein. Das habe ich konsequent gefunden. Als Stadtrat für Urbanistik war er für die Neugestaltung des Bahnhofsareals in Bozen zuständig. Weil er mit seinen Ideen und Vorschlägen aber immer ausgebremst wurde, weil alle auf einen privaten Investor gewartet haben, hat er irgendwann das Handtuch geworfen.

Obwohl es gar kein einschneidendes Ereignis gab, das nach außen hin diesen Schritt erklärt hätte.
Eben. Aber wenn ich jeden kleinen Schritt mitgehe, weil ich keinen Konfikt will, stehe ich irgendwann am Ende eines Weges, den ich nie einschlagen wollte, und frage mich: Wie bin ich eigentlich hierhergekommen? Man muss sich dessen frühzeitig bewusst sein und rechtzeitig Stopp sagen. Irgendwann holt dich der Konfikt ohnehin ein, im Privatleben ist es ja genauso.

Hast du jemals nicht die Wahrheit gesagt während deiner Zeit in der Politik?
Ich habe sicher nie gelogen während meiner ganzen politischen Laufahn. Auch dieses „politichese“ hat für mich nie funktioniert. Aber ich habe manchmal nicht alles preisgegeben und einfach geschwiegen. Zum Beispiel habe ich nicht alles zu einem Projekt gesagt, was ich wusste, um es nicht von vornherein kaputt zu machen. Auch von diesem Buch habe ich lange Zeit niemandem erzählt außer meiner Frau. Das ist auch ein Schutzmechanismus. Sobald etwas auf dem Tisch liegt und diskutiert wird, kann man nicht mehr in Ruhe arbeiten. Du wirst mit tausend Wünschen konfrontiert und verschwendest deine ganze Energie darauf, mit diesen Wünschen fertig zu werden – und aus dem Projekt wird nichts, es wird zerredet.

Und umgekehrt? Ist es dir in der Politik je passiert, dass dich jemand direkt angelogen hat?
Ja. Ganz konkret und augenscheinlich vor einigen Abstimmungen im Gemeinderat, zum Beispiel als wir die Luigi Cadorna-Straße in Meran umbenennen wollten. Noch kurz vor Beginn der Sitzung hatten alle Koalitionspartner zugestimmt – bei der Abstimmung im Gemeinderatssaal kam aber keine Mehrheit zustande. Ich kann auch ziemlich genau abschätzen, wer es war, das war auch menschlich wirklich enttäuschend. Aber insgesamt ist es mir in meiner Zeit als Bürgermeister vielleicht vier oder fünf Mal passiert, dass mir jemand direkt ins Gesicht gelogen hat. Also nicht ganz so oft, wie man in der Politik vielleicht vermuten würde. Genau. Häufger sind hingegen Lügen oder Falschnachrichten, die jemand in den Medien lanciert – heute würde man sagen „fake news“. Wobei die Medien selbst auch ein Interesse an Zuspitzungen und Konfikten haben. Ein Beispiel: Als die Arbeiter der Chemiefabrik Solland Silicon in Sinich gestreikt haben, um die Schließung des Werks zu verhindern, haben mir die eigenen Koalitionspartner vorgeworfen, ich würde mich nicht um die Arbeiter kümmern, weil ich nicht mit dem Landeshauptmann zu den Streikenden nach Sinich gefahren bin. Dabei hatten wir kurz davor bei der nächtlichen Krisensitzung im Regierungskommissariat gemeinsam vereinbart, dass ich lieber nicht kommen sollte. Als Befürworter der Schließung war ich ein absolutes Feindbild für die Arbeiter und wir wollten nicht, dass die Situation eskaliert.

Glaubst du, dass Politik in gewisser Weise eine Form des Theaters ist?
Vielen Politikerinnen und Politikern sitzt der Druck im Nacken, wiedergewählt werden zu müssen. Unter diesem Druck reagieren sie unnatürlich und gekünstelt, sei es in ihrer Sprache oder bei der Präsenz in den sozialen Medien. Politik und Theater haben jedenfalls ein paar Gemeinsamkeiten. In der Politik steht man recht sichtbar auf einer Bühne und spielt eine bestimmte Rolle, die einem zugeteilt wurde. Auch die gekünstelte Sprache und die besondere Art zu reden und zu gestikulieren sind dem Theater in gewisser Weise ähnlich. Mehr Schein als Sein also – Politik als Show? Ein Teil der Politik war und ist immer Show – aber das ist nichts Schlechtes. Gewählte Politikerinnen und Politiker repräsentieren nun einmal auch eine Gemeinschaft. Als Bürgermeister war ich bei vielen Veranstaltungen, zu denen ich privat nie gegangen wäre: von Gedenkfeiern der Schützen bis zum Fastenbrechen nach dem Ramadan mit den Muslimen. Dann holen sie dich hinaus auf die Bühne und du musst irgendetwas sagen – in einer Welt, die dir privat vollkommen fremd ist. Was sagst du da? Du spielst gezwungenermaßen eine bestimmte Rolle. Das wird aber auch von dir erwartet.

Politik und Theater haben jedenfalls ein paar Gemeinsamkeiten.

Wie geht es einem dabei?
Wenn man als Bürgermeister kandidiert, muss einem bewusst sein, worauf man sich einlässt. Beim Abmarschieren der Ehrenformation mit den Schützen stellt sich einer wie ich natürlich die Frage: Was mache ich da eigentlich? Da hat es mich schon gejuckt, absichtlich falsch zu marschieren. (lacht) Es ist immer die Frage, warum du bei diesem Theater mitmachst. Tust du es, weil du wiedergewählt werden willst? Oder siehst du es als Teil deiner Aufgabe? Bei mir war es Letzteres. Heute würde ich vielleicht nicht mehr zu den Schützen gehen. Das ist mir teilweise zu extrem geworden, vor allem während der Zeit von Jürgen Wirth Anderlan als Landeskommandant der Schützen.

Gehört es für dich auch zur Rolle, dass man als Politiker*in ständig unter medialer Beobachtung steht? Ist das nicht anstrengend?
Ja, das gehört dazu. Natürlich kann es im Privaten manchmal nervig sein. Man braucht schon eine dicke Haut, um Kritik aushalten zu können. Aber ich persönlich habe mich rasch daran gewöhnt. Das Einzige, was mich wirklich gestört hat, waren wie gesagt die Medienberichte, die nicht der Wahrheit entsprochen habe. Solche Falschmeldungen tun richtig weh. Im Grunde kann man es auch als Ehre empfnden, wenn man öfentlich zu verschiedensten Themen Stellung nehmen darf. Das bedeutet, dass die eigene Meinung wichtig ist, dass einem die Leute zuhören. Das hat auch nicht jeder.

Schaust du nach deinen Erfahrungen heute anders auf die politische Berichterstattung?
Eindeutig. Zum einen erkenne ich heute oft den Eiertanz, den viele Politiker*innen auführen, um zu überleben und wiedergewählt zu werden. Anhand von Aussagen, rhetorischen Formulierungen und Gestik merke ich, was ihnen wichtiger ist: das eigene politische Überleben oder die Sache, für die sie kämpfen. Dafür habe ich einen recht guten Blick bekommen.

Hast du auch einen anderen Blick auf die politischen Skandale, die alle paar Monate vorkommen?
Da bin ich wesentlich vorsichtiger geworden. Das heißt nicht, dass an einem Skandal, von dem die Medien berichten, nie etwas dran ist. Aber es kommt vor, dass Menschen ganz bewusst politisch aus dem Weg geräumt werden, indem sie diskreditiert oder verleumdet werden. Ich selbst war auch Opfer so mancher gezielten Verleumdungskampagne. Das hat zwei Tage vor meiner Wahl zum Bürgermeister begonnen und hat sich bis zum Ende durchgezogen. Heute beobachte ich Skandale daher mit einer gewissen Distanziertheit und wage kein schnelles Urteil mehr. Es ist wichtig, dass man sich ein klares Bild macht, doch dafür braucht es Zeit und mehr als einen zugespitzten Zeitungsartikel. Ebenso wichtig ist es, dass die Wahrheit ans Licht kommt: Nur so kann der Betrofene entweder öfentlich rehabilitiert oder verurteilt werden, nur so stellt man Vertrauen wieder her. Am schlimmsten dagegen ist es, eine Sache zu vertuschen oder unter den Teppich zu kehren. Aber auch die Wahrheitsfndung braucht Zeit – jedenfalls mehr als ein bis zwei Tage allgemeiner Hysterie.

Es ist wichtig, dass man sich ein klares Bild macht, doch dafür braucht es Zeit und mehr als einen zugespitzten Zeitungsartikel.

Was ist wichtiger, um in der Politik erfolgreich zu sein: dass man die Wahrheit sagt oder dass man eine gute Geschichte erzählen kann – wie im Theater?
Grundsätzlich steht es für mich außer Frage, dass es eine moralische Pficht gibt, die Wahrheit zu sagen. Die gilt in der Politik genauso, selbst wenn sie Einzelne einmal verletzen. Zu einer guten Politik gehört die Pficht, ehrlich und sachlich die Situation zu analysieren, die Ziele für die Zukunft zu defnieren und entsprechend zu planen und zu handeln. Das ist Wahrheit, alles andere ist Populismus.

Trotzdem bleibt der Eindruck, in der Politik zählt am meisten das, was gut und geschickt verpackt ist.
Natürlich ist es auch wichtig, eine gute Geschichte zu erzählen. Kommunikation gehört zu den absoluten Hauptaufgaben der Politik. Wahrheit ist nicht immer etwas Absolutes. Es gibt mehrere Versionen davon, mehrere Arten, sie darzulegen. Da fällt mir der eine oder andere gewiefte Politiker ein, der sich die Wahrheit so zurechtrichtet, wie er selbst oder die Partei es gerade braucht. Mit guter Rhetorik kann man schon einiges erreichen. Trotzdem bedeutet das nicht, dass man die Wahrheit dafür opfern muss. Es ist ohnehin schwierig, glaubhaft eine Geschichte zu erzählen, wenn man selbst nicht überzeugt ist, dass sie stimmt. Die besten Geschichten sind wahre Geschichten.

Sollten wir in einer Welt, in der auch notorische Lügner wie Donald Trump politisch Erfolg haben, überhaupt erwarten, dass die Politik uns die Wahrheit sagt? Wissen wir nicht mittlerweile alle, dass man Politiker*innen nicht alles glauben sollte?
Es wäre falsch, alle Politikerinnen und Politiker über einen Kamm zu scheren. Man trift überall solche und solche, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wenn wir grundsätzlich nicht mehr davon ausgehen können, dass wir uns die Wahrheit sagen, können wir das mit der Politik gleich sein lassen. Dann ist es wirklich nur mehr ein Theater. Es stört mich sehr, wenn mit der Wahrheit so strategisch umgegangen wird. Wenn ich so manche politische Diskussion verfolge, erinnert mich das an einen Gerichtssaal.

Warum das? In welcher Hinsicht?
Es ist die Art und Weise, wie in der Politik die Wahrheit auf die jeweils genehme Weise präsentiert wird. Ein aktuelles Beispiel ist die Geschichte mit der SAD-Abhörafäre: Da gibt es zwei Blöcke innerhalb der SVP, die jeweils eine bestimmte Geschichte erzählen, die dem jeweils anderen schaden soll. Aber der Kern der Afäre ist für mich immer noch: Da versucht ein privates Unternehmen, sich durch versteckte Einfussnahme auf die Politik einen Riesenauftrag zu sichern. Nur wird das fast vergessen! Geredet wird über Hunderte Detailfragen – welche das sind, ist im Grunde egal. Wenn ich den Leuten zuhöre, wirken sie auf mich fast wie Rechtsanwälte, die vor Gericht erklären, warum die Gegenpartei Unrecht hat und bestraft gehört. Dieses Schema wiederholt sich mittlerweile sehr häufg in politischen Diskussionen.

Es stört mich sehr, wenn mit der Wahrheit so strategisch umgegangen wird.

Was stört dich daran?
Es stört mich, dass das gewissermaßen der Ausgangspunkt ist: Fest steht, dass ich Recht habe und der andere Unrecht. Dann wird nach Argumenten dafür gesucht, warum das so ist. Letztendlich geht es nicht mehr um die Wahrheit und um das, was wirklich passiert ist. Es geht darum, sich im Konfikt durchzusetzen. An der Wahrheit ist niemand interessiert, wenn sie dabei nicht weiterhilft.

Die Wahrheit – oder die Geschichte, in der sie verpackt wird – ist nur mehr ein Instrument in der Auseinandersetzung, nicht mehr das Ziel selbst.
Das stört mich wahnsinnig. Es geht nur mehr um die Form und nicht mehr um den Inhalt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Entwicklung durch den Umstand gefördert wird, dass es sehr viele Juristinnen und Rechtsanwälte in der Politik gibt – bei uns in Meran ebenso wie in Rom. Ich glaube, es sind sogar zu viele.

Was machen sie denn anders in der Politik?
Ich will eine Geschichte erzählen, damit klar wird, was ich meine. Als Bürgermeister wurde ich einmal bei einer Gemeinderatssitzung von einem Gemeinderat der Opposition ziemlich persönlich und unter der Gürtellinie angegrifen. Es ging um das 700-Jahr-Jubiläum der Stadt Meran, glaube ich. Es war keine inhaltliche Kritik, es ging gegen mich persönlich – und ich war richtig verärgert. Aber als ich nach der Sitzung aus dem Ratssaal in die angrenzende Bar gekommen bin, wollte mich der besagte Gemeinderat tatsächlich auf ein Getränk einladen! Ich war völlig baff.

Wie hast du reagiert?
Ich habe abgelehnt. Als ich später darüber nachgedacht habe, ist mir aufgefallen, dass er ein Rechtsanwalt ist. Und im Gerichtssaal funktioniert es ja so: Drinnen streiten die Anwältinnen und Anwälte mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen – aber danach gehen sie zusammen ein Gläschen trinken. Das geht vielleicht vor Gericht, aber in der Politik funktioniert das nicht, fnde ich. Da müssen wir schon davon ausgehen, dass wir ehrlich unsere Standpunkte austauschen und nicht nur für etwas oder jemanden Partei ergreifen, weil wir gerade diese Funktion haben oder weil wir dafür bezahlt werden. Du kannst mich nicht im Gemeinderat angreifen und beschimpfen – und danach war alles nur Spaß oder ein Teil des Spiels.

Politik darf nicht nur Rhetorik und strategische Kommunikation sein.
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind es gewohnt, Sachen zu verteidigen, die sie eigentlich gar nicht so meinen. Und sie bringen ihre gewohnte Haltung mit, dieses Gegeneinander: meine Partei gegen deine, wie vor Gericht. Und diese Haltung ist ansteckend und strahlt auf die anderen ab. Denn wenn mein Gegenüber so agiert und es geschickt macht, schaue ich mit meiner naiven Ehrlichkeit bald ziemlich blöd aus. Man ist fast gezwungen, sich daran anzupassen.

Was es braucht, sind denkende Menschen, die politisch vorausschauen können, die eine weite Perspektive haben, keine Regelfetischisten.

Dabei behaupten manche Leute, mit einem Jurastudium habe man einen Vorteil in der Politik, weil man mehr von der Verwaltung versteht.
Das ist Unsinn. Die Verwaltung funktioniert schon, da muss kein Jurist noch zusätzlich dreinreden. Die Politik muss grundsätzliche Fragen klären: Was braucht ein Land oder eine Stadt? Mehr Gewerbezonen oder mehr Kindergärten? Mehr Straßen oder mehr Klimaschutz? Um solche Fragen zu beantworten, muss man kein Jurastudium abgeschlossen haben. Was es braucht, sind denkende Menschen, die politisch vorausschauen können, die eine weite Perspektive haben, keine Regelfetischisten. Es geht um die Inhalte, nicht um die Form. Juristisch saubere Gesetze konnten die Nazis auch formulieren. Aber das bedeutet nicht, dass die Gesetze gut waren.

Eine politische Diskussion sollte nicht wie ein Gerichtsprozess funktionieren. Was kann man dagegen tun?
Ich weiß es nicht. Ich kann den Rechtsanwälten kaum verbieten, in die Politik zu gehen. Die würden mich verklagen. (lacht) Es geht mir einfach wirklich auf die Nerven, wenn Leute mit etwas rhetorischem Geschick eine Position vertreten und plausibel machen, von der sie im Grunde wissen, dass sie nicht zu halten ist. Das ärgert mich in der Politik genauso wie im Privatleben.

Kannst du ein Beispiel machen?
Sämtliche Fachleute, die etwas von Klimaschutz und Mobilität verstehen, werden dir heute sagen, dass Elektroautos die Zukunft sind. Fahr dein altes Auto, solange es noch geht – aber dann kauf ein Elektroauto, nicht schon wieder einen Verbrenner. Dann gibt es Typen, die erklären dir, dass sie lieber beim Verbrenner bleiben, weil es ja noch Probleme gibt mit der Entsorgung der verbauten Akkus oder weil es ja nichts bringt, solange das Auto nicht mit erneuerbarer Energie fährt – was weiß ich. Das mag alles stimmen, aber es sind lösbare Probleme. Das grundlegende Problem des Verbrenners, dass er CO2 aus dem Boden in die Luft bringt, lässt sich dagegen nicht lösen.

Trotzdem kommen einige zu einer anderen Schlussfolgerung.
Wenn ich zu solchen argumentativen Verrenkungen bereit bin, um meine Position nicht ändern zu müssen, dann ist das keine Schlussfolgerung. Das bedeutet, dass meine Meinung von Anfang an feststeht: Ich suche nur noch nach einer Möglichkeit, wie ich sie argumentativ untermauern kann. Da fehlt die Grundehrlichkeit, vielleicht auch die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das habe ich in der Politik oft erlebt. Die Leute biegen sich die Wahrheit für ihre Argumente nach Gutdünken zurecht. Sie picken sich das heraus, was zu ihrer Meinung passt und ignorieren den Rest.

Es ist der Preis der Demokratie, dass man diese Reibungen aushält.

Früher war das für die Politik sicher noch viel einfacher. Heute sorgen die Vorschriften zur Transparenz eigentlich dafür, dass praktisch alle Informationen für jede Bürgerin und jeden Bürger zugänglich sind. Bringen diese Transparenzbestrebungen mehr Wahrheit in die Politik?
Ja, zweifellos sorgt Transparenz für mehr Wahrheit. Deshalb braucht es die Transparenz unbedingt. Wie wird das Geld verteilt? Wer bekommt wie viel? Wer darf wann und wo bauen? Welche Genehmigungen wurden ausgestellt? Wie sehen die neuen Verordnungen aus? Das alles und noch viel mehr sind Resultate der politischen Arbeit. Deshalb müssen sie öfentlich kommuniziert werden.

Hat die Transparenz auch Nachteile? Verstärkt sie manchmal sogar Unruhe und Kritik?
Das kann schon sein. In der aktiven Politik zu sein bedeutet auch, die Kritik auszuhalten, die nach jeder getrofenen Entscheidung kommt. Dafür muss man klar und deutlich defnieren, wie und warum es zu einer Entscheidung gekommen ist. Natürlich ist es schwierig und mühsam, mit aufgebrachten Menschen zu diskutieren. Früher haben viele Politiker so wenig wie möglich kommuniziert, denn grundsätzlich gilt: Je weniger nach draußen dringt, desto einfacher ist die Arbeit für die Politik. Es gibt weniger Kritik und weniger Konfikte, weil viele Leute nicht oder erst zu spät Bescheid wissen. Trotzdem kann das nicht die Lösung sein: Im Kreml dringt auch nichts nach außen. Es ist der Preis der Demokratie, dass man diese Reibungen aushält. Dessen müssten sich alle politischen Akteure bewusst sein.

Du meinst, wer in einer Demokratie Politik macht, sollte sich den demokratischen Grundwerten verpflichtet fühlen – auch der Wahrheit und damit der Transparenz?
Ja, genau. Es macht die Sache anstrengender. Leichter wäre es ohne Transparenz. Leichter wäre es ohne Medien, die dir auf die Finger schauen. Leichter wäre es auch ohne Opposition. Aber wenn wir auf diese Dinge verzichten, landen wir in ganz dunklen Zeiten.

Interview: Lukas Elsler. Der Kommunikationsexperte war von 2015 bis 2020 Leiter der Stabstelle Kabinett und Öffentlichkeitsarbeit der Stadtgemeinde Meran unter Bürgermeister Paul Rösch.

Das Buch ist in der Edition Raetia erschienen.

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