BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
BARFUSS LogoSüdtiroler Onlinemagazin

Support Barfuss

Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus

BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
Petra Schwienbacher
Veröffentlicht
am 15.06.2015
LeuteEin Leben ohne Lautsprache

Anders ist normal

Veröffentlicht
am 15.06.2015
Erst seit Kurzem kann Raphael Donati alleine in eine Bar gehen und etwas bestellen. Der 19-Jährige kommuniziert über einen Sprachcomputer.
Damit BARFUSS weiterhin hinterfragen, aufklären, erzählen und berühren kann, brauchen wir DEINE Unterstützung!
Werde Teil unserer Community.
Teile unsere Story
startbild.jpg

Bei seinem letzten Friseurbesuch konnte Raphael Donati zum ersten Mal selbst sagen, welchen Haarschnitt er gerne möchte. Jetzt trägt der 19-Jährige seine gewellten Haare wild, mit einem Seitenscheitel. „Ich spreche über ein Kommunikationsgerät“, tönt es monoton aus dem runden grauen Lautsprecher, der auf Raphaels Schoß liegt, nachdem er mit dem Daumen auf einen Tablet-Computer gedrückt hat. Seit drei Jahren arbeitet Raphael mit dem Programm Mind Express zur „Unterstützten Kommunikation“. Die Unterstützte Kommunikation schließt alle Kommunikationsformen ein, die die fehlende Lautsprache ergänzen oder ersetzen.

Seit Herbst traut er sich mit seinem Sprachhilfsmittel in die Öffentlichkeit. Vorher war er bei jedem Friseurbesuch, beim Pizzaessen oder wenn er einfach in einer Bar eine Cola bestellen wollte, immer auf Hilfe angewiesen, denn Raphael ist stark beeinträchtigt. Er wird am 5. März 1996 als ältestes von drei Kindern geboren. Aufgrund eines Sauerstoffmangels bei seiner Geburt leidet er unter spastischer Tetraparese, einer mechanischen Störung. Er ist teilweise gelähmt, sitzt im elektrischen Rollstuhl und kämpft mit Spasmen – wenn er sich erschreckt, verkrampft sich seine Muskulatur und er kann sie nicht mehr kontrollieren. Auch bestimmte Buchstaben kann er nicht formen.

Es brauche ein bisschen Übung, dann verstehe man ihn ganz gut, wenn er spricht, sagt Marina Kuppelwieser, seit sechs Jahren Raphaels Assistentin: „Zu Hause ist er ein richtiges Plappermaul“, lacht sie. Unterwegs spricht Raphael aber nicht. Der Meraner besucht zurzeit die vierte Klasse der Wirtschaftsfachoberschule. Eigentlich hätte er gerade Deutschunterricht, neben Turnen sein Lieblingsfach. Er lacht: Lieber erzählt er seine Geschichte.

„Zu Hause ist er ein richtiges Plappermaul.“

Assistentin Marina Kuppelwieser

Raphael kommuniziert auch über eine Buchstabentabelle. Assistentin Marina unterstützt ihn, wenn er Hilfe braucht.

„Ich merke eigentlich fast immer, wenn jemand nur so tut, als ob er mich versteht.”

Raphael Donati

Seit fünf Jahren spielt Raphael Wheelchair Hockey bei den „TIGERS” in Bozen. Er ist ein riesiger FC Bayern München Fan. Sein Bruder Lorenzo ist ein Jahr jünger als Raphael und spielt Fußball, seine Schwester Iris ist 16. Sie kann „volle gut“ zeichnen, schreibt Raphael in seinem Blog, in dem er über die Unterstützte Kommunikation informiert und an seinem Leben teilhaben lässt. Raphael hebt seine Hand, zittrig führt er sie zum Tablet, es dauert einige Sekunden, dann drückt er mit dem Daumen auf ein Feld und wieder ertönt eine künstliche, männliche Stimme: „Wir halten immer zusammen, auch wenn wir uns manchmal streiten.“

Raphael ist es wichtig, dass man ihn beim Sprechen ansieht. Wenn er etwas verstanden hat, dann nickt er, wenn nicht, runzelt er seine Stirn. Auch von seinem Gegenüber erwartet er sich eine ehrliche Reaktion: „Die Leute sollen zugeben, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Ich merke eigentlich fast immer, wenn jemand nur so tut als ob“, sagt Raphael und lacht laut.


Auf seinem Tablet-Computer wählt er zwischen über hundert Seiten aus, was er gerade sagen möchte. Die meisten dieser Vorlagen, die in unterschiedliche Themenfelder unterteilt sind, hat er anfangs zusammen mit Marina eingespeichert. Ursprünglich war das Tablet nicht dazu gedacht, dass er ohne ihre Hilfe Sätze einspeichert. „Aber typisch Raphael hat er das eines Tages alleine gemacht. Für ihn gibt es nichts, was es nicht gibt“, sagt Marina. Das Tablet gibt ihm Freiheit und Unabhängigkeit, er kann sich damit selbst mitteilen. Ein großer Schritt. Auch wenn es manchmal etwas dauert, das passende Feld auszuwählen, findet er sich gut damit zurecht.
Wieder tippt Raphael mit seinem Daumen auf den Bildschirm: „Ich finde es am allerwichtigsten, dass man daran glaubt, dass Menschen, die sich mit unterstützter Kommunikation verständigen, auch etwas zu sagen haben und sich mitteilen möchten.“

„Für ihn gibt es nichts, was es nicht gibt.“

Marina Kuppelwieser
startbild.jpg

Inhalt kann nicht angezeigt werden

Aufgrund deiner Einstellungen für Drittanbieter können wir diesen Inhalt nicht anzeigen.

„Menschen, die mich nicht gut kennen, trauen mir oft nicht viel zu, nur weil ich nicht gut reden kann.”

Raphael Donati

Wenn es einmal schnell gehen muss, hat Raphael weitere Möglichkeiten zur unterstützten Kommunikation – auch nichtelektronische. So wie die Buchstabentabelle, mit der er durch das Zeigen auf einzelne Buchstaben ein Wort bildet. Bei der Ja-Nein-Methode stellt man ihm Fragen, die er mit Ja oder Nein beantworten kann und hält ihm dabei die Hände hin. Er schaut auf die jeweils zutreffende Hand: Die linke steht für Ja, die rechte für Nein. Wenn Raphael spricht, darf es um ihn herum nicht zu laut sein. Und man braucht Zeit für ein Gespräch mit Raphael – Zeit, die man sich nehmen sollte. Der 19-Jährige hat etwas zu sagen und beeindruckt mit seiner positiven Art.

Seit September vorigen Jahres steht der Schüler auch auf der Bühne. Er hält Vorträge zur unterstützten Kommunikation und zu seiner Zukunftsplanung. Raphael will anderen Mut machen, will gehört und vor allem ernst genommen werden. „Menschen, die mich nicht gut kennen, trauen mir oft nicht viel zu, nur weil ich nicht gut reden kann. Dabei kann ich viele Sachen ganz selbstständig machen und verstehe auch alles, was andere sagen.“ Nicht selten kommt es vor, dass ihn auf der Straße eine fremde Person mit viel zu lauter und verstellter Stimme anspricht, mit der sonst Kleinkinder angesprochen werden. Das ärgert ihn.


Seine Vorträge hält Raphael mit Hilfe von Power Point und dem Kommunikationsprogramm Mind Express. Marina unterstützt ihn dabei. Im Mai hielt er bei der Tagung „Barrierefrei leben“ zusammen mit der Deutschen Kathrin Lemler, die dieselbe Beeinträchtigung hat wie er, einen Vortrag zur Unterstützten Kommunikation. „Nicht lachen können ist schlimmer, als nicht sprechen können”, lautete das Motto. Interessierte aus dem Bereich Erziehung, Therapie oder Sanität sowie Eltern und Betroffene kamen, um Raphaels Vortrag zu hören. „Gott sei Dank wusste ich am Anfang nicht, dass es so viele sind, da ich in meinem Rollstuhl ja nicht so weit zurückgesehen habe“, sagt Raphael. Im Rahmen der Tagung leitete er zudem einen Workshop mit mehr als 60 Teilnehmern. Auf die Frage, ob er deshalb aufgeregt war, lacht er nur. Ein klares Nein. „Ich hingegen war total aufgeregt“, erzählt Marina. „Er hat es aber super gemacht, er hat eine einnehmende Art, begeistert das Publikum.“

Nicht lachen können ist schlimmer, als nicht sprechen können.

Raphael bei der Fachtagung „Barrierefrei leben mit unterstützter Kommunikation” in Brixen.

An der Wand hinter Raphael hängt ein Plakat eines Projektes von Schülern mit Beeinträchtigungen. „Anders ist normal“ steht darauf. Das will der 19-Jährige der Welt zeigen. Er will zeigen, wie er kommuniziert – und er will immer besser darin werden. Nach der Matura möchte er eine Arbeit finden. Am liebsten eine, bei der er mit Menschen zu tun hat. „Beim letzten Praktikum hat mein Chef zu mir gesagt, dass ich gute Laune verbreite und sich das positiv auf das Betriebsklima auswirkt“, sagt Raphael stolz. „Ich möchte aber auch mit meinen Vorträgen und Schulbesuchen weitermachen, weil ich die Aufklärungsarbeit sehr wichtig finde.“ Bereits jetzt hat er viele Anfragen. Und er möchte neue Erfahrungen machen, Neues ausprobieren und Fehler machen dürfen. Einfach normal sein. So wie jeder andere in seinem Alter.

Anders ist normal.

Die Ja-Nein-Methode

Mit der Ja-Nein-Methode kann Raphael aus zwei Antwortmöglichkeiten auswählen. Die linke Hand steht für ja, die rechte für nein. So kann er am schnellsten Antworten.

Die Buchstaben- Tabelle

Mit Hilfe der Buchstabentabelle, die Raphael immer in seinem Rucksack dabei hat, kann er schnell kurze Wörter auf einfache Fragen bilden. Dazu tippt er die einzelnen Buchstaben an.

Mind Express

Wenn das Tablet auf der Halterung des Rollstuhls ist, arbeitet Raphael mit dem Programm Mind Express. Es hat Wort- und Satzvorhersagen. Raphael kann damit aber auch in Ruhe ganze Sätze zu verschiedenen Themen vorschreiben und dann über Mind Express sagen lassen.

Dienste

  • News
  • Wetter
  • Verkehrsbericht

BARFUSS


Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support

© 2023 SuTi GmbH
© 2023 SuTi GmbH . Rennstallweg 8 . 39012 Meran . MwSt: 02797340219
DatenschutzCookiesImpressum