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Veröffentlicht
am 19.07.2016
LeuteGeschichte einer Flucht

Der Schlanderser aus Nigeria

Veröffentlicht
am 19.07.2016
Vor den Drohungen eines brutalen Clans flüchtete David aus seiner Heimat Nigeria. Nach acht Jahren auf der Flucht ist er endlich angekommen: Er ist jetzt Schlanderser.
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Gastbeitrag von Dietmar Meister

„Vielleicht bekomme ich eine Medaille als erster Nigerianer in Schlanders?“, fragt er und lacht verschmitzt. Schön zu sehen, denn in den letzten Jahren war David nur selten zum Lachen zumute. Geboren und aufgewachsen ist er in Benin City, in einer der ärmsten Städte Nigerias. „Die meisten Nigerianer, die flüchten, kommen aus dieser Gegend. Außer Armut gibt es einfach nichts dort“, erzählt David.

„Mach bei uns mit oder wir bringen dich um“.

Doch die Armut war es nicht, die ihn vertrieben hat, sondern ein brutaler Clan, der ihm, dem einzigen Sohn, nach dem Tod seines Vaters zwei Möglichkeiten anbot: „Mach bei uns mit oder wir bringen dich um“. David wählte Möglichkeit drei. Er nahm sein Erspartes, verabschiedete sich von seiner Mutter und seinen beiden Schwestern und floh. Das war im Jahr 2008.

Mit Burka nach Libyen

Zuerst nahm David einen Bus Richtung Norden. Um über die Grenze in den Niger zu kommen, musste er Soldaten bestechen. Dann brachte ihn ein anderer Bus weiter ins Zentrum des Landes. „Von dort fuhr ich in einem Geländewagen weiter. Wir fuhren funf Tage lang durch die Wüste Richtung Norden. Wir hatten viel zu wenig Wasser dabei, weil der Fahrer zu Beginn sagte, wir dürften nicht mehr als vier Liter mitnehmen, weil im Auto nicht genug Platz wäre.“

An der libyschen Grenze musste David dann wieder Leute bestechen, um durchgelassen zu werden. „Der Reisepass spielt dort keine Rolle. Wenn du das Geld hast, kannst du durch. Wenn nicht, nicht.“ In Libyen gab es auch im Landesinneren strenge Kontrollen, mit denen das Gaddafi-Regime versuchte, Menschen wie David daran zu hindern, zum Mittelmeer zu kommen. David musste sich eine Burka anziehen und sich als Frau ausgeben, um nicht kontrolliert zu werden und es bis in Libyens Hauptstadt zu schaffen. „Als ich in Tripolis ankam, war ich froh, aber mein Geld war aufgebraucht. Ich arbeitete sieben Monate lang als Fliesenleger, um die 800 Euro für das Boot nach Italien zusammenzubringen.“

12 Tage Wellen und Himmel

Die Überfahrt von Tripolis nach Lampedusa dauert normalerweise zwischen 24 und 48 Stunden. Bei David dauerte sie zwei Wochen. „Unser Schlauchboot hatte ein Loch. Es muss gleich zu Beginn entstanden sein, als wir das Boot ins Wasser geschoben haben. Mit Plastiktellern mussten wir kontinuierlich das Wasser abschöpfen, um nicht unterzugehen. Jeder drei Stunden lang, dann kam der nächste.“

„Viele gaben auf, Hunger und Durst waren zu stark für sie. Andere wurden nachts von einer Welle erfasst und über Bord geworfen.“

Trotzdem schafften sie es bis kurz vor Lampedusa. Doch dann versagte der Motor. „12 Tage lang trieben wir auf offener See. Alles, was wir sahen, waren die Wellen und der Himmel. Ich habe immer gehofft, dass ein Fischerboot oder sonst jemand vorbeikommt und uns entdeckt. Doch niemand kam. Wir hatten nur Brot und Wasser für zwei Tage mit. Viele gaben auf, Hunger und Durst waren zu stark für sie. Andere wurden nachts von einer Welle erfasst und über Bord geworfen.“ Als nach zwölf Tagen ein Boot der italienischen Küstenwache auftauchte, waren viele schon gestorben.

Zu Tode gerettet

„Wir freuten uns natürlich grenzenlos, als wir das andere Boot sahen. Aber das Boot der Küstenwache war viel größer als unseres und jedes Mal, als es näherkam, drückten seine Wellen unseres weiter weg. Also schossen die Polizisten Schwimmwesten zu uns rüber. Dabei hätten sie auch ein Beiboot gehabt, mit dem sie uns gruppenweise hätten holen können. Ich weiß nicht, warum sie das nicht gemacht haben. Viele Jungen und Mädchen konnten nicht schwimmen und ertranken trotz Schwimmwesten in den hohen Wellen. So starben die meisten von uns bei der Rettungsaktion.“

Von den 72 Menschen, die in Tripolis das Boot bestiegen hatten, kamen nur 24 lebend in Lampedusa an. „Ich kann mich an ein Mädchen erinnern, das mit mir auf dem Boot war. Sie betete für mich, als ich weinen musste. Sie betete viel für mich. Nach unserer Rettung suchte ich sie, aber ich konnte sie nicht finden. Sie war nicht mehr da.“

„Also bettelte ich“

In Lampedusa musste David zuallererst seine Fingerabdrücke abgeben. Nach drei Tagen wurde er nach Brindisi gebracht und suchte dort um Asyl an. „Das dauerte insgesamt fast ein Jahr. Zuerst stellte ich den Asylantrag, dann wartete ich monatelang, bis ich zum Interview geladen wurde. Es vergingen wieder Monate, bis die Entscheidung kam. Und sie war negativ.“

Die Polizei gab David fünf Tage, um das Land zu verlassen. „Ich redete mit einem Freund, den ich aus Nigeria kannte und der in Trient wohnt. Er sagte mir, ich solle zu ihm kommen. In Trentino-Südtirol würden sie Leute nur abschieben, wenn sie ein Verbrechen begangen haben.“ David folgte dem Rat seines Freundes. „Wenn ich nicht auf ihn gehört hätte, hätte mich irgendwann die Polizei aufgegriffen und abgeschoben. Und alles, was ich bis dahin durchgemacht hatte, wäre umsonst gewesen.“ Sechs Jahre lang war David irregulär im Land. „Ich bekam deshalb keine Unterstützung vom Staat. Ich wollte nicht stehlen, und ich wollte auch keine Drogen verkaufen. Also bettelte ich.“ So fuhr er zwei Mal in der Woche zum Betteln mit dem ersten Zug von Trient nach Schlanders.

Kein Wiedersehen mit seiner Mutter

Irgendwann hörte David von einer Immigrationsanwältin aus Rom und nahm Kontakt zu ihr auf. „Sie hat sich ein Jahr lang für mich eingesetzt, bis ich im Jahr 2015 endlich subsidiären Schutz gewährt bekommen habe.“ Kurz nach dieser Entscheidung rief er seine Mutter in Nigeria an und sagte, dass er sie nun, nach sieben Jahren, endlich besuchen könne. „Nein, nein, Junge, das ist viel zu gefährlich. Mir geht es gut“, sagte sie. Wenige Monate später starb sie.

David und seine Schwestern bei der Beerdigung seiner Mutter

„Ich konnte sie nicht mehr sehen. Das war sehr schmerzhaft“, erzählt David. Um sich von seiner Mutter zu verabschieden, wollte er zumindest bei der Beerdigung dabei sein. Mit dem Geld, das in Schlanders für ihn gesammelt wurde, konnte er sich einen Flug leisten. Er musste über das Nachbarland Benin heimlich nach Nigeria einreisen und durfte sich auch dort nicht blicken lassen. Obwohl eine Beerdigungszeremonie in Nigeria vier Tage dauert, konnte David nicht bis zum Schluss bleiben. Denn die Leute, die seinen Tod wollen, hatten von seiner Anwesenheit erfahren. „Deshalb verabschiedete ich mich schon nach zwei Tagen wieder von meinen beiden Schwestern und machte mich auf die Rückreise.“

Hoi, David!

Vor wenigen Monaten zog David von Trient nach Schlanders. „Ich habe Maria gekannt. Ihr Geschäft war gleich neben dem Ort, an dem ich immer bettelte. Im Winter war es sehr kalt und ich saß stundenlang im Freien. Wenn sie mich sah, hat sie mir Tee oder Suppe gebracht. Sie hat mir ein Zimmer organisiert und mittlerweile auch eine Arbeit. Ich denke, mein Leben hat jetzt erst begonnen. Als nächstes will ich Deutsch lernen – auch wenn ich noch Schwierigkeiten habe, den Dialekt hier zu verstehen.“

Seit 29. April 2016 ist David Schlanderser – ganz offiziell, mit Ausweis, Wohnsitz und so weiter. Medaille will er übrigens keine. Aber wenn ihr ihn irgendwo trefft, würde er sich über ein „Hoi, David!“ bestimmt freuen.

Dietmar Meister lebt und arbeitet in Wien. Der 1985 geborene Schlanderser hat Politikwissenschaft und Journalismus studiert und ist als freier Journalist für verschiedene Medien tätig. Politisches Zeitgeschehen und das Reisen gehören zu seinen Hauptinteressen.

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